Der Sommer des Kometen
Loblied.
‹Die Ursache seiner Narbe mitten im Gesicht›?
Dieses verdammte Frauenzimmer. Hatte sie nicht schon im letzten Jahr die halbe Stadt an der Nase herumgeführt? Plötzlich hatte er es sehr eilig.
Sven Mylau saß an seinem Tisch im Marburger’schen Kontor und dachte nach. Die ersten eiligen Blicke in die Geschäftspapiere hatten keine Spur gezeigt. Das war nicht verwunderlich, denn die wichtigen wurden gewiss in der messingbeschlagenen Truhe mit den drei dicken Schlüssellöchern verwahrt. Am besten wäre es, das langweilige Kontor zu verlassen und sich in der Raffinerie umzusehen. Am besten …
«Verdammt, Rosina. Was fällt Euch ein?!»
Rosina, heute in der Rolle des Sven Mylau, sprang erschrocken auf, schubste den aufgebrachten Besucher beiseite und schloss eilig die Tür.
«Wenn Ihr weiter so herumschreit», sagte sie ärgerlich, «weiß gleich die ganze Stadt, dass Eure Hilfsbereitschaft nicht so selbstlos ist, wie sie scheint, und unser schöner Plan ist geplatzt.»
Er starrte sie wütend an, aber ihr Anblick ließ jeden Ärger verrauchen. Er hatte erwartet, sie würde wieder so aussehen wie im letzten Jahr, als sie als junger Reisender aus Sachsen tagelang alle Männer im Kaffeehaus zum Besten gehalten hatte. Niemand hatte gemerkt, dass sie eine Frau war, nur Telemann, den ihre Scharade viel zu sehr amüsierte, als dass er sie verraten hätte. Sie war klug genug gewesen, Sven Mylau ein anderes Aussehen zu geben, und er war nicht sicher, ob er sie ohne Pagerians Bemerkung über die Narbe sofort erkannt hätte.
Aus Rosina, blond und gertenschlank, war der pummelige Sven Mylau geworden, sie musste viele Meter eines dicken Stoffs um ihren Körper gebunden und Polster in die Schultern ihrer Jacke genäht haben. Kein Wunder, dass auf ihrer Stirn und über der Oberlippe feine Schweißperlen glänzten. Am verblüffendsten jedoch war das feuerrote Haar, das sie geglättet und im Nacken mit einer schwarzen Schleife gebändigt hatte. Ihre Lippen, sonst voll und kirschrot, wirkten blass und schmal. Aber das würde niemand bemerken. Jeder, der sie sah, musste auf das rote Haar achten, nicht auf das Gesicht darunter.
«Starrt mich nicht so an.» Ihre Stimme klang nun schon freundlicher. «Ich wollte schon immer rote Haare haben. Obwohl ich hoffe, dass Helenas Versicherung, die Farbe lasse sich mit der Zeit wieder auswaschen, der Wahrheit entspricht.»
«Aber warum seid
Ihr
hier? Warum nicht Sebastian?»
«Das ist ganz einfach», erklärte sie. «Aber setzt Euch doch, und wenn Ihr bitte ein wenig leiser reden würdet. Ich bin noch nicht lange genug hier, um zu wissen, ob man hören kann, wenn jemand durch die Diele kommt.»
Sie schob ihm einen Stuhl in den Erker, so weit wie möglich von der Tür entfernt, und setzte sich ihm gegenüber.
«Als Sebastian Euren Brief bekam», erklärte sie und beugte sich möglichst nah an sein Ohr, «wollte er Eurem Wunsch sofort entsprechen; um ehrlich zu sein, er wollte nichts lieber als das. Ich verstehe das zwar nicht, aber manchmal sehnt er sich ein wenig nach, Ihr würdet sagen: ordentlichen Verhältnissen. Aber wir haben auch unsere Arbeit, und als wir uns alle zusammensetzten, um diese Sache zu besprechen, fanden wir, dass ich im Theater zurzeit am wenigsten gebraucht werde.»
Jean habe allerdings behauptet, er selbst würde den besten Schreiber abgeben, doch Helena habe ihn überzeugt, dass der Prinzipal niemals abkömmlich sei. Das habe alle erleichtert, denn niemand konnte sich vorstellen, dass er seine großen Erfolge auf der Bühne und bei den Damen lange für sich zu behalten vermochte. Sebastian sei zunächst ein wenig verstimmt gewesen, dann habe er jedoch eingesehen, dass Rudolf ohne seine Hilfe die Galerie in der Altonaer Theaterscheune nicht bauen konnte. Und wenn Rosina auf dem Kutschbock und auch sonst zu allem gut zu gebrauchen sei, als Baumeistergehilfin habe sie überhaupt kein Talent.
Damit musste Claes sich zufriedengeben. Dass Sebastian zwar das Lateinische einigermaßen, den Umgang mit Zahlen halbwegs, aber das Französische überhaupt nicht beherrschte, behielt Rosina für sich. Und dass sie gewiss die größere Meisterin in der Kunst der Verstellung war, erforderte keinen besonderen Hinweis.
«Dann versprecht mir wenigstens, gut auf Euch achtzugeben, Rosina», sagte Claes voller Sorge. «Ich habe nichts gegen diese Scharade, ich weiß ja, wie gut Ihr Eure Rollen spielt. Reichenbachs Kaffeehausauftritte», fügte er grinsend hinzu,
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