Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Großmütter am Bahnhof zurückgelassen, ihre Väter waren entweder verhaftet, verwundet oder tot, alle waren sie Schutzbundkinder aus Kapfenberg, Bruck oder Eisenerz. Der Mann, Herr Ansperger, der sie begleitete, war ein hagerer, großgewachsener Lehrer mit welligen schwarzen Haaren, die ihm wie Gestrüpp vom Kopf abstanden. Die Mutter hatte den Buben erklärt, er würde freiwillig bei der »Roten Hilfe« arbeiten und mit seiner Frau Schutzbundkinder über die Grenze in die Tschechoslowakei bringen. Von dort würden sie in die Sowjetunion weitertransportiert werden und in Moskau dann in die Schule gehen oder eine Handwerksausbildung beginnen können. Es gab bereits Nachrichten von den geflohenen Februarkämpfern, die vor Wochen dort angekommen waren und in verschiedenen Fabriken und auf Baustellen Arbeit gefunden hätten. Manche wollten bald ihre Frauen ins gelobte Land nachkommen lassen. Die Mutter hatte erzählt, Ansperger sei für einen Wiener Genossen eingesprungen, der, nachdem er ab März als Fluchthelfer einige Duzend Arbeiter über die Grenze in die Tschechoslowakei gebracht hatte, selbst nach Brünn geflohen war, weil ein Verdacht der österreichischen Behörden auf ihn gefallen war. Ansperger sammelte die Zettel von Max und Edgar ein, die sie mitgebracht hatten. Darauf waren in Schönschrift ihre Namen, die Geburtsdaten und die Adressen notiert. Nachdem er die Papiere aller Kinder in seiner Jackentasche verschwinden hatte lassen, versuchte er sie mit ihrem Vornamen anzureden und ein wenig Ordnung in die Gruppe zu bringen, damit es aussah, als sei eine Großfamilie unterwegs. Sie würden ihn ab jetzt am besten mit Onkel anreden. Wenn sie jemand fragen würde, wohin sie fuhren, dann sollten sie sagen, zu den Großeltern nach Geras, nahe der tschechischen Grenze. Dann holte er aus einem Rucksack einen Laib Brot und reichte ihn seiner Frau, die mit einem großen Messer Scheiben abzuschneiden begann und sie an die Kinder verteilte. Dazu gab es für jeden die Hälfte einer getrockneten Birne und mit einem Mal war es still im Abteil, während draußen die grünbergige Landschaft des oberen Mürztals vorbeizog. Die Frau begann von Wien zu erzählen, wohin sie zuerst fahren würden, und schärfte ihnen ein, auf dem Bahnhof und in der Straßenbahn immer eng zusammenzubleiben. Frau Ansperger war groß gewachsen wie ihr Mann, sie trug einen grauen Rock und einen grauen Pullover, darunter eine weiße Bluse, ihre blonden Haare waren zu einem Bubikopf geschnitten, die hellen Augenbrauen kaum sichtbar, und sie machte auf Max den Eindruck, als würde sie eine Uniform tragen, dazu passte der Ton, in dem sie die Kinder pausenlos mit etwas beschäftigte, er erinnerte ihn an die Schule. Max kaute lustlos auf dem Obstschnitz, er mochte Birnen nicht besonders gern, wusste aber, dass er dankbar sein musste, einen bekommen zu haben, das hatte ihm die Mutter eingebläut, und er wollte auch nicht auffallen. Eduard war mit Otto in ein Kartenspiel vertieft, die beiden saßen jetzt etwas abseits der übrigen Kinder, die zwei Mädchen aus Bruck waren eingeschlafen und lehnten mit den Schultern aneinander, über die Knie gebreitet lagen ihre Mäntel, die für die Jahreszeit viel zu warm waren, aber erahnen ließen, dass ihre Reise weiter führen und länger dauern würde, als sie es sich selbst eingestehen mochten. Der Zug kroch langsam über die weit ausladenden Kurven der Semmeringstrecke, vorbei an Felswänden und auf hohen Viadukten über Schluchten, mäandrierend durch das saftige Grün im Licht eines klaren Augustnachmittags.
Bei der Einfahrt im Wiener Südbahnhof saßen die Kinder müde in den Bänken und hielten die Augen nur mit Mühe offen, während draußen vor den Fenstern die ersten Häuserfassaden im Halbdunkel, bereits von den Lichtern der Straßenlaternen erleuchtet, vorbeiglitten. Ansperger hob die Gepäckstücke aus dem Netz über ihren Köpfen und begann sie zu verteilen. Seine Frau half Max den schweren Rucksack auf den Rücken zu laden, die dicken Lederriemen drückten auf den Schlüsselbeinen, der Sack hing ihm bis zu den Oberschenkeln und behinderte ihn beim Vorwärtskommen. Sein großer Bruder zog ihn ungeduldig am Arm, damit sie direkt hinter dem Schaffner Aufstellung nehmen konnten, um als Erste auf den Bahnsteig zu springen. Die Fahrt ging, nachdem sie das Bahnhofsgebäude verlassen hatten, mit der Straßenbahn weiter, die Gruppe war inzwischen aufgeteilt worden. Die Frau des Lehrers hatte nach einem kurzen
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