Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
wurden die Kinder zum Bahnhof gebracht, nachdem sie sich von Ansperger verabschiedet hatten. Er ging wieder zurück nach Österreich und wollte den nächsten Transport begleiten. Mit dem Zug und gemeinsam mit weiteren Kindern, die seit einigen Tagen auf die Abreise gewartet hatten, ging es Richtung Sowjetische Grenze. Sie hatten von einem groß gewachsenen Herrn, der gut Deutsch sprach, rote Fahnen ausgehändigt bekommen. Max saß staunend neben Edgar, sie hatten eine Blechdose mit Esswaren auf dem Schoß. Im Zug wurden Lieder gesungen, und die Begleiterinnen bemühten sich, den Kindern russische Texte beizubringen, die sie bei ihrer Ankunft in Moskau vortragen sollten. An der ersten Grenzstation zur Sowjetunion durften sie aussteigen. Es ertönte Musik, Reden wurden gehalten, Essen wurde ausgeteilt, Fahnen geschwungen, und sie versuchten, das erste Mal die Internationale zu singen. Eines der älteren Mädchen mit kurzen Haaren in einer blauen Arbeiterbluse hielt eine Ansprache und schrie zuletzt den Dank der Genossen in Österreich und den Dank der Schutzbundkinder, die von der kommunistischen Partei der Sowjetunion gerettet wurden, in die Menge, die begeistert zurückjubelte. Max konnte seinen Augen und Ohren nicht trauen. Er war vom Taumel der Freude angesteckt und saugte auf der Weiterfahrt nach Moskau das Bild der vorbeigleitenden flachen Landschaften mit saftigen Wiesen, kleinen Weilern, unendlichen Wäldern in sich auf und wünschte, seine Mutter würde ihn sehen und erst der Vater und der Großvater, die eigentlich hier gefeiert werden sollten.
ICE Basel Frankfurt Juni 2011
In zwei Stunden werde ich in Frankfurt ankommen. Das Dahinschweben des Zuges macht mich ganz leicht, als ob meine Beine mich wieder tragen würden wie früher, im schnellen Lauf am Ufer der Donau entlang, durch die Straßen von Wien, im Prater, am Ring. Ich bin überall gelaufen, wenn ich mich mitten in der Stadt unbeobachtet gefühlt habe. Es war für eine junge Frau nicht schicklich gewesen, aus purem Spaß zu laufen. Auf dem Sportplatz in den schwarzen halblangen Hosen war es erlaubt. Onkel Heinrich hatte mir für die Rennbahn schicke Laufschuhe aus butterweichem Leder anfertigen lassen, das Oberleder war von kleinen gestanzten Löchern durchsetzt. Solches Schuhwerk hatten nur die Mädchen aus reichen Familien, denn der Schuster in der Innenstadt war einer der teuersten in Wien und schmückte sich noch mit dem Titel k.u.k Hoflieferant. Onkel Heinrich unterstützte meine Sportbegeisterung und war stolz auf mich, wenn ich wieder die Beste in meiner Altersgruppe über hundert Meter war, besser als meine Konkurrentin Sarah aus dem jüdischen Sportclub, den es nachher unter den Nazis nicht mehr gab . Das Laufen in den Straßen der Stadt hingegen wollte er mir wiederholt verbieten, wenn ihm zu Ohren gekommen war, ich sei mit wehendem Rock an einem seiner Bekannten vorbeigerast und hätte weder gegrüßt noch die Verkehrsregeln beachtet. Einmal war ich vor eine Straßenbahn gestürzt, hatte mir blaue Flecken und ein aufgeschürftes Knie geholt, und als ich mit einem zerrissenen Rocksaum nach Hause kam, war Onkel Heinrich das Unglück nicht entgangen.
Nach dem ersten Jahr hatte ich das Medizinstudium abgebrochen und arbeitete im Krankenhaus der Rudolfstiftung. Dort war ich als Hilfsschwester eingestellt worden, durch Beziehungen von Onkel Heinrich, der nach seinen zahlreichen Darmoperationen, denen er sich hatte unterziehen müssen, geschwächt im Bett lag. Er musste die Arbeit in seiner Kanzlei vorübergehend aufgeben, das machte ihm größte Sorgen, da er ständig unter der Angst litt, nicht genügend zu verdienen, um weiter die große Wohnung bezahlen zu können. Zudem sparte er für ein Häuschen in Graz, wo er mit Else hinziehen wollte, des milderen Klimas im Winter wegen und weil es in besseren Kreisen seit der Kaiserzeit üblich war, den Lebensabend dort zu verbringen. Er lag zwischen den Spitalaufenthalten im Gästezimmer, das vollgestopft war mit Biedermeiermobiliar aller Art. Alles Erbstücke aus Tante Elses Familie, die über Generationen ein Schlösschen in der ehemaligen Untersteiermark bewohnt hatte. Ihr Vater war im Dienste des Bezirksgerichtes in der Provinzstadt Cilli gestanden, Staatsdiener, großdeutschtümelnde Vorfahren, ihre Brüder waren schlagende Burschenschafter in einer Studentenverbindung in Graz gewesen, wie Tante Else manchmal nicht ohne Stolz erzählt hatte. Ihre Mutter hatte dem Drang zum verfeinerten
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