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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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einen Brief an Heinrich geschrieben hatte, und darin von der beengten Situation gesprochen hatte, die sie erträglicher machen könnten. Ich weiß gar nichts darüber, warum Heinrich und Else mich nach Wien geholt haben. Kinder stellen sich solche Fragen nicht. Als ich mit Onkel Heinrich im Zug Richtung Österreich saß, musste ich nicht nur das Dorf meiner Kindheit, die Schulfreunde, den Hund Prinz und meine Verwandten zurücklassen. Ich musste auch Fritz verlassen, der auf einem benachbarten Bauernhof als Knecht lebte. Abends, nachdem er mit dem Melken fertig war und ich ihm half, die Gänse, Enten und Hühner in den Stall zu sperren, hatte Fritz mir gezeigt, wo man am besten die zahlreichen Wasservögel beobachten konnte. Er war taubstumm gewesen, und hatte die Schule nicht lange besuchen können. Die Nachbarn waren froh, eine zusätzliche Arbeitskraft gegen Kost und Logis im Haus zu haben, nachdem der Bauer 1917 an der Marne für verschollen erklärt worden war, ein Vorgang, den ich damals noch nicht mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung brachte. Die Marne, das wusste ich, war ein Fluss in Frankreich . Erst viel später, als Onkel Heinrich in Wien vom Ersten Weltkrieg erzählte, wurde mir klar, dass dort Hunderttausende in den Schützengräben an Giftgas erstickt waren. Das also hatte die Geste von Fritz bedeutet, als er sich unter gurgelndem Geröchel die Hände um den Hals schloss, bis er blau angelaufen war und zur Erde fiel. Er wollte dem, was im Krieg geschehen war, Nachdruck verleihen, wenn die Bäuerin von ihrem Mann erzählte, dessen Seele, wie sie stets betont hatte, Gott gnädig sein sollte.
    Draußen schweben die oberrheinischen Wiesen und Felder vorbei. Nach dem Abenteuer des Verladens auf dem Bahnhof in Basel bin ich müde. Es hat eine Weile gedauert, bis der junge Mann am Bahnsteig erschien und mir beim Einsteigen mit dem Rollstuhl half. Ich hatte Zeit genug, die ersten Fahrgäste zu beobachten, und obwohl für mich eine Ecke neben der Abteiltüre reserviert war, hatte sich meine Unruhe von Minute zu Minute gesteigert. Der Bahnangestellte war ganz besorgt gewesen, als ich ihm erzählte, die Reise würde bis Frankfurt am Main gehen. Es machte mich ein wenig stolz, dass ich allein unterwegs war, und ich wünschte mir, Paul hätte mich so sehen können. Doch lieber wäre ich mit ihm auf Reisen gegangen, weil er immer an alles dachte, aber dafür war er inzwischen zu schwach. Er mochte keine Überraschungen mehr und vielleicht hatte das mit seinem Beruf als Ingenieur und seiner zwanghaft ordentlichen Art zu tun. Paul war vor über zwanzig Jahren die treibende Kraft auf unserer Suche nach einem Wohnobjekt gewesen und hatte bald etwas Passendes und Preiswertes gefunden. Die anfängliche Freude der Freundesgruppe war groß gewesen und wider meine Erwartungen waren wir rasch zu einer finanziellen Einigung gekommen. Wir ahnten bald, dass wir uns ein Sanierungsprojekt eingehandelt hatten. Die elektrischen Kabel und die Ölheizung mussten erneuert werden, doch der Aufwand lohnte sich und trotz der langen Umbauarbeiten zogen wir gern ins »Grüne Haus« ein. Alexander hielt immer wieder alle bei Laune, wenn es darum ging, ein gemeinsames Treffen zu organisieren, an dem dann die nächsten Probleme, die sich auf der Baustelle ergeben hatten, besprochen werden sollten. Er hat es mit seinem Humor und seiner hoffnungsfrohen Art, er befürchtete nicht im Vorhinein bereits das Schlimmste, über die Jahre verstanden, meine wiederkehrenden finsteren Gedanken zu vertreiben. Mit Basel, das ich damals nur von den Besuchen bei Alexander gekannt hatte, wurde ich schnell vertraut. Niemand behandelte mich als Ausländerin, und ich entwickelte rasch das Gefühl dazuzugehören. Vielleicht hing das auch damit zusammen, dass Alexander lange Zeit in Österreich gelebt hatte, Lise aus Hannover kam, Dadrah aus Indien, und so hatten wir ein buntes Gemisch aus verschiedenen Nationen gebildet, das beim Besuch von Lena und Phillip, ihrem Mann, noch um die Britische erweitert wurde. All das hätte ich mir als Kind nie träumen lassen und gab mir in diesen Momenten des Miteinanders die Hoffnung auf eine bessere Welt, an die ich früher nicht recht glauben konnte.
    Die vorletzte Reise zu Lena nach London war nicht einfach gewesen, denn es war die erste Begegnung, nachdem sie sich von mir zurückgezogen hatte. Zu Anfang hatten wir uns gut vertragen, erledigten einträchtig in ihrem Haus und Garten kleine Arbeiten, bis Lena von der Zeit um

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