Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Traurigkeit ersparen wollte. Wenn jemand mir heute diese Photographie vorlegen würde, ich könnte nicht anders als fragen, was diese beiden jungen Menschen überhaupt voneinander wollen. So wenig aneinander interessiert scheinen sie, so weit getrennt durch Welten. Im Nachhinein scheint es, als habe Mutter mit ihrer Prophetie gleich zu Beginn der Beziehung mit Gregor recht behalten. »Hast Du dir nicht überlegt, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben?« Damals habe ich sie spitz gefragt, was sie denn damit meine, und darauf habe ich nur zu hören bekommen »Kind, es ist Dein Leben. Mach damit, was Du willst«. Von da an versuchte ich, die beiden so wenig wie möglich miteinander in Berührung zu bringen, was weder Gregor noch sie besonders störte, mich jedoch manchmal in arge Bedrängnis brachte. Wenn wir uns nicht getrennt hätten, dann würde ich heute vielleicht noch immer in einer Firma im Personalbüro arbeiten und Menschen verwalten, mich um ihre Ferienguthaben kümmern, vom Chef abkanzeln lassen, wenn irgendetwas nicht so erledigt war, wie er sich das vorstellte. Nach Abschluss von Gregors Architekturstudium hätten wir vielleicht Kinder bekommen. Doch damals fühlte ich mich durch diese Vorstellungen von einer heilen Welt mit Familie, Kindern und Eigenheim immer mehr beengt, und sie machten mir Angst. Zunächst schien mir eine Trennung nicht denkbar, wir hatten geheiratet, um unseren Traum zu leben, auch wenn ich immer weniger benennen konnte, worin denn dieser Traum bestand, und erst heute kann ich sagen, es waren verschiedene Träume. Ich war seine Muse, bis ich ihm vorwarf, er würde mich wie eine Mutter behandeln, und als ich sagte, ich würde gerne nach Berlin zu meiner Freundin Anna gehen, um in ihrer Werkstatt eine Schneiderlehre anzufangen, trat ich damit eine Kaskade von Ereignissen los, die dann schnell klarstellte, wie sehr sich unsere Wege inzwischen getrennt hatten. Ich ging zur Arbeit und quälte mich durch die wechselnden Demütigungen, und er verzog sich zu einem Freund, dessen Vater ein renommiertes Architekturbüro besaß, für das sie kleinere Gestaltungsaufträge ausarbeiteten. Gregor hatte kaum mitbekommen, wie eintönig ich manchmal unser Leben fand, und umgekehrt wusste ich nicht, wie es ihm mit seinem Studium ging und welche Ideen er verfolgte. Eines Abends lag ich völlig unerwartet mit Fieber im Bett und entwickelte in den nächsten Tagen eine Lungenentzündung. Drei Wochen lang erholte ich mich kaum, bis ich mich endlich entschloss, die Stelle zu kündigen. Ich wollte keine Handlangerin in einem System sein, das mir zutiefst zuwider war. Mit der Kündigung atmete ich zunächst auf, doch in den nächsten Tagen befiel mich eine finstere Stimmung, und ich konnte Mutters Kommentare am Telefon kaum ertragen, mit denen sie mir indirekt die Schuld an meiner Situation zuwies und zu verstehen gab, dass mir das alles erspart geblieben wäre, wenn ich mir einen besser situierten Mann gesucht hätte. Als ich dann einige Zeit keine Stelle fand, die mir zusagte, begann ich immer mehr zu resignieren, zog mich zurück und mochte mit niemandem mehr reden. Dieses Gefühl von Ausweglosigkeit hatte ich auch in meiner Jugend oft empfunden, auch als Vater noch am Leben war. Damals war es an manchen Tagen so still in unserem Wohnzimmer, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Manchmal, wenn bei meiner Schulfreundin Klara und ihrem Bruder Axel zu Hause laut gelacht wurde, zog mich diese Fröhlichkeit unwiderstehlich an. Eine derart ausgelassene Stimmung kannte ich zu Hause nicht. Mutter lachte selten, es kam auch nie ein spontaner Scherz über ihre Lippen, gerade so, als würde sie sich, wenn es lustig zuging, am Leben vergreifen. Vater lachte nur, wenn er etwas getrunken hatte, dann wurde es Mutter meist zu viel, sie verabscheute ihn in solchen Momenten, entzog sich seinen neckischen Annäherungen. Vor einigen Jahren besuchte ich Mutter nach einer Unterleibsoperation im Spital. Sie war gerade aus der Narkose aufgewacht und lag zufrieden im Bett, gut gelaunt, und begann, mir den Inhalt eines Romans zu erzählen, den sie die Woche zuvor gelesen hatte. Detailgenau und ausufernd sprudelte es aus ihr heraus, mit einer Leichtigkeit, die ich an ihr vorher nie erlebt hatte. Mich ergriff die Angst, sie könnte durch die Betäubungsmittel einen Gehirnschaden davongetragen haben, ich fühlte mich aber auch angenehm berührt, befreit von der Ernsthaftigkeit, mit der sie sonst ihr Lebensgeschäft betrieb. Als ich
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