Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Werkstück übergestülpt bekam, mit Stecknadeln fixiert, die mich stachen. Oft saß Mutter am Boden, um die Saumlänge eines Rockes anzupassen, ein paar Stecknadeln zwischen die Lippen gepresst, das Metermaß um den Hals gelegt wie eine gelernte Schneiderin. Den speckigen, leicht süßlichen Geruch des weißgrauen flachen Stückes Nähkreide kann ich riechen und ich sehe die Blechknopfdose vor mir, die mit ihren blaugoldenen Farben eine Verheißung für mich darstellte, der ich, nur wenn es von Mutter erlaubt worden war, nachgeben durfte. Langsam öffnete ich dann den Deckel und leerte den ganzen Schatz der Hundertschaften von runden, eckigen, verschieden klingenden Teilchen aus Horn, Perlmutt, Holz und Plastik vorsichtig auf der Tischplatte oder auf dem Linoleumboden aus, stellte in der nächsten Stunde bunte Gruppen oder Paare von Knöpfen gleicher Art zusammen oder brachte mit einem großen Knopf eine Herde von kleineren durch Druck auf deren Rand meterweit zum Springen. Dann warf ich die Knöpfe wieder in die Dose, einige legte ich auch vorsichtig zurück, je nachdem wie lieb sie mir im Laufe des Spiels geworden waren. Als ich vier und fünf Jahre alt war, nähte mir Mutter ein Rosenkleid. Weißes Leinen mit unterschiedlichen kleinen Rosenknospen bedruckt, glattes Oberteil mit kurzen, bis zum halben Oberarm reichenden Ärmeln, deren Saum mit einem dunkelroten Paspelierband eingefasst war, wie auch der rund ausgeschnittene Hals, der an der Hinterseite durch einen zierlich geschliffenen Glasknopf zu verschließen war. Dazu ein in Nabelhöhe angesetzter, in leicht schwingende Falten gelegter Rockteil. Auf einer Schwarzweißaufnahme sitze ich im Rosenkleid auf einer Holzbank im Hof des Hauses, neben mir meine Freundin Biene, mit langen geflochtenen Zöpfen, unsere Beine reichen noch nicht bis zum Boden. Beide tragen wir weiße Zwirnstutzen bis zu den Knien, wir sind vom Kindergarten zurückgekommen und blinzeln in den neuen Photoapparat von Vater, der gerade damit beschäftigt ist, jeden, der ihm im Haus über den Weg läuft, für die Ewigkeit in den kleinen Kasten zu bannen. Aus der Serie stammen auch die Bilder von den Nachbarsbuben Johann und Anton, die an der Teppichstange baumeln, die alte Frau Schmid mit prall gefüllten Taschen links und rechts beim Nachhausekommen vom nahe gelegenen Gemischtwarenladen. Sie steht auf der Eingangstreppe unseres Mietshauses, in leicht nach vorne gebückter Haltung, süßsauer lächelnd, das Gesicht umrahmt von einem geblümten, streng hinten am Nacken geknüpften Kopftuch. Sie fühlt sich geschmeichelt, dass ausgerechnet sie geknipst werden soll, es würde später einmal ein Dokument geben, wie hart sie gearbeitet hat, um die drei hungrigen Kinder ihrer Tochter, alle unehelich, satt zu kriegen. Dann musste auch Frau Kaspar, Witwe und Betreiberin des Gemischtwarengeschäftes, vor ihrem Ladenfenster für Vater posieren. Es gab damals im Umkreis viele alleinstehende Frauen, entweder war der Mann im Krieg gefallen oder verschollen. Einige hatten sich nach der Rückkehr des Mannes von ihm scheiden lassen, weil er nicht mehr derselbe gewesen war, den sie kennengelernt hatten. Manche hatten erst gar keinen Mann zum Heiraten gefunden und wurden mit der Zeit zu älteren Fräuleins, denen etwas eigenartig Unwirkliches anhaftete, wenn sie in den Familien ihrer Brüder oder Schwestern lebten und sich um die Kinder kümmerten oder im Haushalt halfen. Die anderen Frauen begegneten ihnen oft mit Distanz. Das Kleid, auf das ich so stolz war, hing ein paar Tage später an der Wäscheleine, der Wind wehte in ein abgerissenes Stück Stoff, das nur mehr an einem kleinen Steg am Saum des Rockes hin und her baumelte. Der junge Schäferhund des Trafikanten hatte sich darin verbissen und wollte im tollen Spiel nicht mehr loslassen. Ratsch. Ich sehe den ärgerlichen Blick meiner Mutter, als sie versuchte, das Kleid zu flicken. Ich habe es nicht mehr getragen. Jahre später hing ein vergilbter Putzfetzen im Schrank unter der Spüle nachlässig über den Rand eines weißen Emaileimers. Rosenmuster.
Die Nässe auf den Holzbrettern der Terrasse ist getrocknet, Theo hat sich ins Haus verzogen, über mir höre ich den pfeifenden Flügelschlag eines großen Vogels in der Luft, das auf- und abschwellende Rauschen von Gefieder. Ich versuche zu raten, welcher Vogel dort fliegt, ob es ein Kormoran ist, ein Reiher, doch der Flug klingt schwer, behäbig, ein Adler vielleicht. Ich erträume mir einen Seeadler mit
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