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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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wären, denen sie die Berechtigung zum Leben abgesprochen hat. Mutter hat sich immer über gentechnische Versuche aufgeregt, sie war gegen Genmais und Klonschafe, dazu wäre das Leben zu heilig und der Mensch solle nicht in die Schöpfung eingreifen. Als sie zur Welt kam, hatten ihre Eltern gerade den Ersten Weltkrieg hinter sich. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war sie fünfundzwanzig. Den Mondflug hat sie mit fast fünfzig erlebt, ein Mobiltelefon hat sie sich mit achtundsiebzig angeschafft, den Laptop mit achtzig. Mutter ist auf eine Art doch auch eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Generation. Die beiden Zimmer, die für die Zwillinge bestimmt waren, haben Phillip und ich einige Monate leer stehen lassen, vielleicht auch in der unausgesprochenen Hoffnung, wir würden noch einen Versuch unternehmen. An dem Abend, als wir uns dagegen entschieden haben, saßen wir hier an der Feuerstelle im Garten und haben Fisch gebraten. Es war ein heller, kühler Sommerabend und, eingewickelt in Decken, schauten wir in den Himmel, der sich vom Spiel des Gelb und Rot bis zum tiefen Violett in klarsten Farben über uns wölbte. Ohne es vorher wirklich überlegt zu haben, sagte ich Phillip, es sei genug, ein nächstes Mal würde ich die Prozedur einer künstlichen Befruchtung und eine unsichere Schwangerschaft nicht mehr ertragen. Phillip kam auf mich zu und umarmte mich lange, ohne etwas zu sagen, und mit einem Mal konnte ich weinen, wie ich es vorher in all der Zeit nach dem Krankenhaus nicht gekonnt hatte. Damals war ich immer mehr verstummt, saß nur herum und unternahm endlose Spaziergänge, wenn ich mich abends endlich aus dem Haus traute. Phillip hatte, so schien es mir, bereits vorher mit dem Thema abgeschlossen, aber er hatte mir die Zeit gelassen, die ich brauchte, um mich von dem Wunsch nach Kindern frei zu machen. Mit Mutter hatte ich damals gebrochen und war froh gewesen, meine Ruhe vor ihr zu haben, doch ich fühlte mich einsam. Einen Monat nach dem Gespräch im Garten hatten wir einen befreundeten Architekten bestellt, um mit ihm den Umbau des oberen Stockwerkes zu planen und die leerstehenden Zimmer zurückzugewinnen und sie für unser eigenes Leben nutzbar zu machen. Einen Arbeitsraum für mich und ein Musikatelier für Phillip, schallgedämmt, in dem seine Instrumentensammlung einen Platz bekommen sollte. Angefangen mit den Flöten und Hirtenpfeifen, die er in den unterschiedlichsten Gegenden Europas gekauft hatte, bis hin zu einem zerlegbaren Alphorn, das ich zum letzten Mal gehört habe, als er zur Hochzeit von Mutter und Alexander um Mitternacht auf einer Wiese vor dem Hotel im Schwarzwald, in dem wir alle übernachteten, einige selbstkomponierte Melodien gespielt hatte. Es war sein Geschenk an die beiden gewesen, und ich schäme mich noch heute für mein Theater, nur weil ich es unrecht fand, dass Mutter es wagte, ein zweites Mal zu heiraten, ohne mich rechtzeitig zu informieren. Ich habe die Erinnerung an dieses Wochenende oft genug verdrängt, jetzt ist es an der Zeit, Mutter um Entschuldigung zu bitten.

ICE Basel-Frankfurt Juni 2011
    Der Zug verlässt langsam den Bahnhof Mannheim. Es ist lange her, seit ich hier einmal ausgestiegen bin, um Olaf, einen ehemaligen Nachbarn aus Enkheim, zu besuchen. Ich hatte ihn auf dem Marktplatz in Basel getroffen, als ich mich anschickte, Gemüse zu kaufen. Es ist seltsam, wie sich manche Tage einprägen. Dieser war irgendwie besonders, wegen des Zusammentreffens mit Olaf. Er brachte mir meine Kindheit in Erinnerung, aber es hatte sich auch ein unbeschwert warmes Wetter über die Stadt gebreitet. Es bot den Rheinschwimmern die letzte Gelegenheit, sich in den glitzernden Fluten mit ihren bunten Säcken ein Stück treiben zu lassen. Am Horizont gegen Frankreich hatte ich am Morgen vom Fenster aus Schwärme von Staren auf- und abwogen sehen, einem unbekannten Ziel entgegen. Ich war fasziniert gewesen von diesem gewaltigen Vogelkörper, der sich kurz zu verdichten schien, um sich dann wieder aufzulösen und zur Landung mit Hunderten Vogelbeinen außerhalb meines Blickfeldes anzusetzen. Sie sammelten sich für die lange Winterreise in den Süden.
    Olaf hatte ich wegen des großen Muttermals auf der linken Gesichtshälfte erkannt, das mich schon als Kind fasziniert hatte und ihn mit seinen gekräuselten braunen Haaren, die noch immer nicht vollkommen ergraut waren, unverkennbar machte, selbst nach Jahrzehnten. Als ich ihn auf der gegenüberliegenden Seite des Marktstandes

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