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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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braunem Deckgefieder und einem hellen Kragen auf der Brust. Doch Adler gibt es in dieser Gegend nicht. Manchmal wünschte ich mir, ein Vogel würde mich forttragen, weit übers Meer, wie in romantischen Liedern, weit hinauf in die Lüfte, damit ich losgelöst von der Erde hineinblicken könnte in andere Welten, die man von hier unten aus nicht sehen kann. Doch dann möchte ich wieder zurückkehren auf diesen Erdball, um all die Dinge zu tun, die ich sonst auch tue. Jeden Tag aufstehen, leichtfüßig im Sommer und schwerfällig im Winter, wenn die Dunkelheit alles einhüllt und ich in dunkler Kältestimmung anfälliger bin für schwarze Gedanken. Sie überfallen mich dann oft, weil ich mir mit meiner Arbeit zu sehr Druck auferlege, damit eine Kollektion fertig wird, und fast verzweifle, wenn die Stoffe, die ich bestellt habe, wegen eines Produktionsengpasses in einer Manufaktur in Indien nicht rechtzeitig geliefert werden. In solchen Situationen resigniere ich dann, verkrieche mich morgens noch eine Weile unter die Decke und wehre mich gegen den Tag. Gerade in solchen Momenten wird mir bewusst, dass ich in dreißig Jahren so alt sein werde, wie Mutter jetzt ist. Dann denke ich manchmal an das Wochenende mit meinen Schneiderinnen und Models, das ich für uns auf der Isle of White organisiert, und für das ich eigens Simulationsanzüge gemietet hatte, die es möglich machten, zu erleben, wie es sich anfühlt, wenn man achtzig oder mehr Jahre alt ist. Ausgestattet mit Gewichten an Armen und Beinen, welche die Bewegungen erschwerten, mit einer seitlich eingeengten Brille, die durch milchige Gläser das Sichtvermögen bei Linsentrübung und Halsstarre nachempfinden ließ, mit Versteifungen an den großen Gelenken, um die Beweglichkeit einzuschränken, und zuletzt noch mit Handschuhen an den Händen, die es unmöglich machten, ein dünnes Sektglas in der Hand zu halten und daraus zu trinken. Zunächst hatten wir alle gelacht, doch hat sich bei den Mädchen seither etwas geändert, wenn sie wieder unzufrieden mit ihren Brüsten oder Hüften sind oder über ein paar Kilo zu viel jammern. Wenn ich früher an die häufiger werdenden Gebrechen von Mutter dachte, von denen sie am Telefon erzählte, wusste ich oft nicht, wie ich mit ihren Schilderungen vom steifen Rücken oder den wiederkehrenden Hüftschmerzen, der Unmöglichkeit, sich selbst die Zehennägel zu schneiden, umgehen sollte. Helfen konnte ich ihr auf diese Entfernung nicht, und mit guten Ratschlägen, die ich mir überlegte, war ihr nicht gedient. Doch diese Erfahrung mit dem Anzug ließ mich geduldiger werden, vielleicht auch respektvoller, weil ich ahne, was auf mich zukommt. Wenn sie mir von ihrer Morgengymnastik erzählt, die sie täglich vor dem Aufstehen im Bett absolviert, dann ist mir das auf eine nicht genau erklärbare Art unangenehm. Körperliches war bei uns zu Hause immer ein Tabu gewesen. Kaum erinnere ich mich an die Nacktheit von Mutter und ganz besonders nicht an jene von Vater, von dem ich nur ein einziges Mal eine Ansicht seines bloßen Rückens im Gedächtnis habe. Auf einer Bergwanderung hatte er einmal das verschwitzte Hemd in aller Eile und mit verkrümmter Haltung gewechselt.
    Jetzt fliegt der große Vogel drüben über dem Fluss weite Kreise, verschwindet manchmal in den kleinen luftigen Wölkchen, die den lichtblauen Frühsommerhimmel wie Dunst durchziehen. Er scheint die Thermik zu nützen, um weiter aufzusteigen. Vielleicht ist es ein Bussard, ich werde das alte Fernglas von Vater suchen, das irgendwo in meinem Büro in einer Schachtel vergraben liegt. Wenn meine Zwillingsmädchen jetzt hier wären, bräuchte ich mir weniger Sorgen um Theo zu machen, der bei Phillip zwar gut aufgehoben ist, aber manchmal vergisst er den Hund irgendwo, weil er es nicht gewohnt ist, sich um ihn zu kümmern. Fünfzehn wären unsere Töchter jetzt, halb erwachsen, zweieiige Zwillinge. Eine bestimmte Vorstellung von ihnen, mit Körpern, einer konkreten Haarfarbe, habe ich nicht. Sie sind einfach da, körperlos und begleiten mich. »Du wirst immer meine Tochter bleiben, solange ich lebe und solange Du lebst.« Dieser Satz, den Mutter oft ausgesprochen hat, nahm mir früher fast die Luft und meint vielleicht, was ich jeden Tag fühle, nur hat mein Gefühl in keinem Gegenüber eine konkrete Gestalt erhalten. Doch darüber kann ich mit Mutter nicht reden, weil sie die Existenz der Kinder immer verleugnet hat, weil sie in ihren Begriffen Kunstprodukte gewesen

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