Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
die für mich etwas Bodenloses hatten. Ihrer Grundstimmung konnte ich mich kaum entziehen, und es befiel mich ein Gefühl der Schutzlosigkeit. Er rief mich ab diesem Treffen regelmäßig an, suchte Halt, den ich ihm durch unsere gemeinsamen Jugenderlebnisse zu geben schien. Wir telefonierten jede Woche, sprachen über Belangloses. Er erzählte mir, wo er sich in den Ferien aufhielt, meist eine Woche oder zwei, in Amerika, Canada oder Südafrika. Es war, als absolvierte er ein Pflichtprogramm gegen seine trüben Stimmungen, in denen er keine Depressionen sehen wollte, er als Arzt wüsste besser Bescheid. Ab da behielt ich meine Überlegungen für mich. Doch ich habe mich auch gefreut, durch die Gespräche mit ihm an Dinge erinnert zu werden, die mir schon längst aus meinem Gedächtnis abhanden gekommen waren, wie die Geschichte, als wir gemeinsam mit ein paar anderen Kindern im Hinterhof Unordnung angerichtet hatten und uns Olafs Vater dann befohlen hatte, wir sollten das wieder zusammenräumen. Olaf hatte mir damals eingeredet, wir könnten einfach nur so tun, als ob wir uns beim Putz beteiligten und dann abhauen, was in meinem Fall mit einer Tracht Prügel bestraft worden war. Diese Geschichten sprudelten förmlich aus Olaf heraus, und manchmal lachte ich fast Tränen und eine Sehnsucht nach einer unbeschwerten Zeit, die kurz nach diesen Ereignissen zu Ende gegangen war, ergriff von mir Besitz, nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte. Ich versuchte, dem Gehörten nachzuhängen, saß still in meinem Schaukelstuhl in der Loggia des »Grünen Hauses« und schaute in den Garten, ohne ihn wahrzunehmen. Nach einem Jahr habe ich dann mit einem Mal nichts mehr von Olaf gehört. Ich hatte mir nach zahlreichen vergeblichen Anrufen vorgenommen, nach Mannheim zu fahren, um dort vielleicht von den Nachbarn etwas zu erfahren, doch nach einem Monat kam die Todesanzeige, die jemand an die Namen aus seinem Adressbuch geschickt haben musste. Es gab keine Traueradresse, keine Hinterbliebenen. Sein einziger Sohn war mit zwanzig bei einem Verkehrsunfall mit dem vom Vater geschenkten Auto verunglückt und hatte seine Freundin mit in den Tod gerissen. Olaf hatte mir die Geschichte bei unserem ersten Treffen in Basel erzählt.
Die letzten Häuser von Mannheim gleiten vorbei. »Adieu Olf.« Bald wird sich der Zug Frankfurt nähern, und wenn ich von meinem Platz aus den Blick zum Himmel richte, sehe ich unendlich viele Kondensstreifen das Blau durchziehen, teils in verblasenen Mäandern, teils als geradlinige weiße Striche, die sich an ihren Enden in die Breite ziehen, um dann den Föhnschiffen zu ähneln, die dort am Horizont vor einer Weile aufgetaucht sind. Solche Himmelserscheinungen hat es in meiner Kindheit nicht gegeben, und ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie still die Welt damals ohne den Verkehr überall gewesen ist. Es ist ruhiger geworden im Waggon, die meisten Mitreisenden sind in ihre Zeitungen oder Computer vertieft oder haben sich etwas zu essen geholt, um gelangweilt beim Blick aus dem Fenster vor sich hinzukauen. Ein junger Mann mit Kopfhörern, der steif in seinem hellblauen Hemd mit weißem Kragen steckt, lehnt nachlässig in seinem Sitz, die Krawatte in Grau und Silber hat er leger umgebunden, den obersten Hemdknopf geöffnet. Was er wohl von Beruf ist, in welchem Büro er zu tun hat? Die Anzughosen scheinen billig, beim genaueren Hinsehen glänzen sie verdächtig und verraten den eingewirkten Kunststoff. Er hat vorher offenbar mit seinem Vorgesetzten telefoniert und das Abteil nicht verlassen. Alle konnten mithören, wie er sich in Erklärungen verstrickte, warum der Termin mit dem Klinikdirektor leider nicht so erfolgreich wie erwartet verlaufen war. Ob ich mich mehr darum hätte kümmern sollen, was junge Leute heute denken, wie sie sich verhalten. Lena hat recht, Enkelkinder wären eine Hilfe gewesen, und ich würde viel unmittelbarer mitbekommen, wie man heute lebt. Die Zwillinge wären jetzt auch schon fast fünfzehn , würden in Clubs gehen und sich mit elektronischem Krimskrams in der Freizeit beschäftigen. Ich finde es inzwischen schade, keine Enkel zu haben, und mich ärgert, dass ich damals Lena meine Meinung über künstliche Befruchtung gesagt habe.
In einer halben Stunde sollte der Zug im Bahnhof von Frankfurt ankommen, von wo aus mich damals der Zug aus meiner Kindheitsumgebung getragen hat, hinaus in eine andere Welt.
Hampshire, Kriegsgefangenenlager 41, November 1946
»Halt endlich Deinen
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