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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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dreckigen Mund, ich kann das alles nicht mehr hören. So viele Vaterunser kannst Du gar nicht beten, und selbst wenn Du lebenslänglich im Kerker hocken müsstest, würde Dich das nicht erlösen.«
    Max hatte Clemens zugehört, wie er nach dem Essen im Chor ein Dankgebet mitgesprochen hatte. Zuvor hatte er in Maxens Beisein davon erzählt, wie er mit anderen Soldaten aus einem Flüchtlingstreck junge Frauen herausgesucht hatte, um sie auf ihrem Lastwagen zu vergewaltigen und dann auf die Straße zu werfen. Maxens Stimme war zu einem Schreien angeschwollen, er sprang mit hochrotem Gesicht von seinem Sessel auf und versuchte, über den Tisch hinweg sein Gegenüber am Hals zu packen, bekam aber nur den Hemdkragen der dunkelgrauen Montur zu fassen, der jedoch seinen Fingern wieder entglitt, als Clemens in einer reflexartigen Bewegung nach hinten fiel und mit einem Knall auf dem Holzboden landete unter den erstaunten Blicken der anderen Gefangenen. Sie waren aufgesprungen und standen abwartend um den Tisch.
    »Ihr habt doch alle nichts kapiert.« Max griff, ohne sich umzudrehen, nach dem hinter ihm am Boden liegenden Sessel und schleuderte ihn mit Wucht über den Tisch in Richtung Clemens. Vor dessen Füßen blieb das Möbel zerbrochen liegen. Max stürmte zur Tür, hinaus auf den Gang, weiter aus der Baracke, über den Vorplatz, auf dem jeden Morgen der Appell abgehalten wurde, bog um die nächste Baracke, um sich auf die Holzstufen zu setzen und nach oben in den sternenklaren kalten Februarhimmel zu blicken und sich eine Zigarette anzuzünden. Am nächsten Morgen würden sie abtransportiert werden, endlich, verteilt auf die umliegenden Bauernhöfe und Güter zur Landarbeit, einige würden nach Schottland in ein anderes Lager verlegt werden, Unverbesserliche, SS -Gesindel, das nie genug vom Krieg, von Hitler und vom Deutschen Reich bekam, das längst schon nicht mehr existierte.
    Angelockt hatten sie ihn mit den glitzernden Maschinen in der Wochenschau im Kino, hatten ihm vorgegaukelt, er könne sich zum Flieger ausbilden lassen und weg von Kapfenberg kommen, wo sie ihn im Werk bedrängten, er solle der NSDAP beitreten. Er hatte sich freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet und kam nach Rohrmoos für Holzarbeiten. Dann folgte der Militärskikurs im Kleinen Walsertal und schließlich fasste er seine Wehrmachtsuniform und wurde in Wien stationiert, in Kagran beim Fliegerabwehrkommando. Das war dann die Luftwaffe von unten, weiter hatte er es nicht gebracht, Verteidigung kriegswichtiger Einrichtungen. Und jetzt wollte er nur noch weg von dem Geschwätz über die Heldentaten, den Reden über die Menschen, die sie erschossen, geschändet, verbrannt und zerstückelt hatten.
    Max war damals Monate vor dem Ende des Krieges in der Nacht mit drei seiner Kameraden auf einem Patrouillengang in Holland desertiert. Mit einem weißen Unterhemd, das sie an einem Stock befestigt hatten, wollten sie auf den Graben zugehen, in dem sie die Engländer durch die Ferngläser bei Tag ausgekundschaftet hatten. Der nächste Angriff würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, und sie wollten ihre kaputte Stellung nicht noch länger verteidigen. Sie wussten, dass sie trotz weißer Fahne von den Gegnern erschossen werden konnten, doch das war ihnen egal. Die Flucht war ihnen gelungen, und wider Erwarten hatte man sie freundlich behandelt, nachdem sie in ihren schmutzigen Uniformen mit den Händen hinter dem Kopf auf dem Boden gelegen hatten und auf Waffen durchsucht worden waren. Ganz am Anfang waren sie in einem improvisierten Lager in Holland untergebracht. Still und voller Angst hatten sie darauf gewartet, wohin sie verlegt werden würden. Alle waren froh gewesen, nicht in die Hände der Russen gefallen zu sein, auch wenn sie in den Lagern in von ihnen selbst gegrabenen Erdlöchern hausten. Als der Boden immer morastiger und die Verpflegung immer schlechter wurde, die Läuse alle befielen und die Hoffnung auf trockene Unterkünfte verflogen war, hatte Max den Gedanken an eine baldige Rückkehr nach Hause aufgegeben. Die endlosen Tage im Schlamm und unter regengrauem triefendem Himmel hatten gleich zu Beginn einige der Gefangenen verrohen lassen, und Max war nach einer Woche der Militärmantel und das Rasierzeug abhandengekommen, unvorstellbar, wer zu solchem Diebstahl fähig war. Jeder wusste doch, dass er nicht an neues Material gelangen würde. Max fühlte sich elend mit dem verwahrlosten Gesicht, das mit der Grobschlächtigkeit, die es

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