Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
Wusste Margarethe, dass er am Leben war? Ob sie die Bombenangriffe überlebt hatte? Er durfte nicht daran denken, was ihr alles zugestoßen sein könnte und musste sich von den Bildern, die in den letzten Wochen in ihm hochstiegen, ablenken, wenn er Margarethe von Soldaten umstellt sah, oder wenn er sich vorstellte, wie sie in einem verschütteten Keller vergebens um Hilfe rief. Letzte Nacht hatte Max geträumt, wie Margarethe über Trümmer sprang, unermüdlich vorwärtsdrängend, hinaus aus der inneren Stadt, gehetzt und doch mit einem erwartungsvollen Lächeln um den Mund, wenn sie sich nach ihm umdrehte, um zu sehen, ob er ihr in den zerstörten Gassen folgte. Und dann ein Bild, ein Teil ihres blumenbedruckten Rockes lugt unter rauchenden Trümmern hervor. Max sah zum großen Wagen hinauf, der sich am nördlichen Firmament im unendlichen Schwarz des Himmels bereit machte, um seine nächtliche Fahrt anzutreten, weit oben über allen Hoffnungen, Wünschen und Flüchen schwebend, in langsamer Reise zum Ende der Zeit, das drohend über allem stand.
    Langsam kamen zwei Barackenmitbewohner um die Ecke. Sie verstummten, als sie Max auf der Eingangstreppe im schwachen Schein des Lichtstrahls, der durch das Fenster fiel, sitzen sahen. »Hast recht gehabt. Clemens soll das Maul halten. Er hat ein paar kräftige Ohrfeigen mitgekriegt und wird morgen mit einem Veilchen nach Schottland reisen.« Sie klopften Max im Vorbeigehen auf die Schulter. »Komm rein, es ist besser, Du bleibst heute bei uns.« Widerwillig ließ er sich bitten, denn er wollte eine Weile für sich sein, wollte seinen Gedanken nachhängen. Doch man konnte nie wissen, mit welchen Angriffen er noch rechnen musste, bevor am nächsten Morgen die Wachen die Heckklappen der Lastwagen draußen vor der Lagereinfahrt mit einem lauten Knall zuschlugen. Einzig Hans würde nicht mehr dabei sein. Als Max auf den Aushängen seinen Namen auf der Liste derjenigen entdeckt hatte, die im Lager bleiben und lediglich zum Arbeiten das gewohnte Areal verlassen würden, war er zunächst enttäuscht gewesen. Doch inzwischen war er mit seinem Los zufrieden, denn hier kannte er inzwischen jeden Winkel und von den Wachen hatte er nichts Böses zu erwarten. Die Aussicht, auf den Feldern zu arbeiten und auf Zivilisten zu treffen, ließ in Max die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen aufkommen, auch wenn er sich von den Einwohnern der Gegend keine bevorzugte Behandlung erwartete. Nach den anfänglichen Entbehrungen in den verschiedenen Durchgangslagern, hatte es hier Spendenpakete für die Gefangenen gegeben mit Zahnpasta, einem neuen Rasiermesser, Stofftaschentüchern. Max konnte sich kaum vorstellen, wer auf die Idee gekommen war, den Gefangenen karierte Taschentücher aus Baumwolle zu stiften, die bei den meisten erst nach einer Zeit Verwendung fanden, weil alle inzwischen gewohnt waren, ihre Finger dazu zu benützen, den Rotz von den erkälteten Nasen zu streifen. Max war froh, den Küchendienst und die Latrinenputzerei, die Spielzeugschnitzerei hinter sich lassen zu können. Inzwischen hatte er genug von den langen, verregneten Nachmittagen, die sie vertieft ins selbst gebastelte Schach- oder Kartenspiel verbrachten. Oft hatte er die Zeit dazu genutzt, um im kleinen Bibliothekszimmer Englisch zu lernen, und beherrschte die Sprache inzwischen gut im Vergleich zu seinem spärlichen Wissen, das er hatte, als er kurz nach der Ankunft mit Tausenden anderen in der Durchgangsstation Wimbledon dem ersten Lager zugeteilt worden war. Er besuchte regelmäßig die Unterrichtsstunden, um seine Kenntnisse anzuwenden, und versuchte, manchmal eine Unterhaltung mit den Wachtposten anzuknüpfen, denen er dann von den Bergen und Landschaften zu Hause in der Steiermark erzählte. Das Heimweh, das dann in ihm aufzusteigen begann, erwähnte er mit keinem Wort und er hatte auch vermieden, davon in seinem Tagebuch zu berichten, weil er Angst hatte, diese Schwäche könnte ihm seinen Lebenswillen rauben, wie damals in Moskau, als Knabe, als er zu Beginn vor lauter Kummer nicht mehr essen konnte und sich innerlich jeden Abend verzehrt hatte. Auch davon erzählte er niemandem, denn keiner sollte wissen, dass er Russisch sprach, aus Angst davor, man könne ihn für einen Spion halten, der von den Sowjets eingeschleust worden war.

ICE Basel Frankfurt Juni 2011
    Mein Rücken schmerzt vom langen Sitzen, und ich würde am liebsten aufstehen und mir ein wenig die Beine vertreten, doch ohne fremde Hilfe und im

Weitere Kostenlose Bücher