Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
besondere Tage, in denen ich nicht viel sprach, die Verständigungsrituale beim Einkauf oder beim Essen in der Taverne absolvierte ich in rudimentärem Englisch und mit Zeichensprache. Nachdem ich mich zu Anfang etwas geschämt hatte, wurde ich erfindungsreicher und mutiger, wenn es darum ging, ein besonderes Gericht auszuprobieren, von dem ich keine Ahnung hatte, welche Zutaten sich darin fanden, oder wenn ich in einem Laden, der mit gestickten und gehäkelten Bändern und Bettüberwürfen vollgestopft war, ein kleines schmuckes Wandbild kaufen wollte. Das Fenster des Pensionszimmers war zu den Felsen hin gerichtet, und ich beobachtete jeden Morgen die Dohlen. Leicht landeten die schwarzen Vögel an winzigen Vorsprüngen und Rissen, dort zogen sie in Höhlen und Felsspalten ihre Brut groß. Ihr heller Ruf war für mich ein hoffnungsfrohes Zeichen, er trug eine unbändige Lust aufzubrechen in sich. An den Hängen des Hochschwab, wohin ich manchmal mit Max zum Wandern aufgebrochen war, über dem Abriss zur steil abfallenden Kalkwand, warf ich dann die letzten Brotkrümel meines Proviants hinaus in die Luft, die von den kreisenden Vögeln im Sturzflug aufgefangen wurden, wobei ich, wenn ich ihnen länger zusah, jedesmal lachen musste.
Der Mann mit dem Strohhut hatte sich, nachdem er zögernd eine Unterhaltung auf Deutsch eingefädelt hatte, an meinen Tisch gesetzt, und wir waren ins Gespräch gekommen. Ich erklärte ihm, warum ich hier war. Als ich von Max als jungem Wehrmachtssoldaten erzählte, begann Alexander, so stellte er sich mir vor, von seiner Herkunft aus einem Dorf in den griechischen Bergen zu erzählen und von seiner Mutter, die nur knapp einem Säuberungskommando der Wehrmacht entgangen war. Seine Stimme und der ruhig dahingleitende Rhythmus der Sätze nahmen mich für ihn ein. Das aufmerksame Zuhören ließ mich eintauchen in diese mir fremde Welt. Wir waren die einzigen Gäste auf der Terrasse der Taverne, die Stunden vergingen mit Gesprächen und Essen. Alexander erzählte auch von seinem Vater, der beim Einmarsch der deutschen Truppen zu den Partisanen gegangen und nie mehr aus den Bergen zurückgekehrt war. Im Zweiten Weltkrieg und im anschließenden Griechischen Bürgerkrieg hätten mehr als hundert Menschen aus seinem Heimatdorf ihr Leben verloren. Die einen als Soldaten der regulären griechischen Armee, die anderen als Partisanen, andere waren von den Deutschen als Geiseln erschossen worden. Alexander ging damals in Athen zur Schule und wohnte bei einem Onkel, der in einer Lagerhalle im Hafen von Piräus arbeitete. Er war der Stolz seiner Familie und des Dorflehrers gewesen, der sich dafür eingesetzt hatte, dass er weiter zur Schule gehen konnte. Die ganze Dorfgemeinschaft hatte es ihm ermöglicht, indem sie Lebensmittel und Wollsachen schickten, die der Onkel dann weiterverkaufte. Alexander hatte in dieser Zeit ein wenig Deutsch gelernt, Soldaten aus einem kleinen Gebirgsdorf in Tirol hatten es ihm beigebracht, wie er mir erzählte. In Alexanders Art zu erzählen lag etwas Bedächtiges und Vorsichtiges, so als wollte er mir mit dem Erzählten nicht zu nahe treten, denn die Zerstörung und das Leid, die durch die Wehrmacht verursacht worden waren, hatten ein enormes Ausmaß. Nach zahlreichen Bemühungen, mir in Wien Literatur über diese Zeit zu beschaffen, hatte ich dann aufgegeben, weiter in Bibliotheken zu suchen, weil ich nicht finden konnte, was mich interessierte. Ich wollte wissen, wie die Soldaten damals ihren Alltag verbracht und welches Verhältnis sie zu den Einheimischen gehabt hatten. Aus den Schilderungen von Max war nicht viel zu erfahren gewesen. Er hatte von weiß gestrichenen Dörfern, türkisfarbenen Buchten und endlosen Olivenhainen geschwärmt, hatte vom Olymp erzählt, vom Parnass, von den Thermopylen und von Meteora, mit seinen unzugänglich über dem Tal thronenden Klöstern, die in ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hatten. Nachdem ich dort angekommen war, glaubte ich zu verstehen, was Max so fasziniert haben musste.
Ich hatte bei den Bewohnern in Kastraki damals nicht nachgefragt, was während der Besatzungszeit geschehen war. Ich sprach kein Griechisch und wollte auch nicht an alten Dingen rühren, denn ich ahnte, was alles zum Vorschein kommen würde, wenn ich genauer nachfragte. Und dann war dieser Mann aufgetaucht, von dem ich mehr erfuhr, als ich mir erwartet hatte. Alexander erzählte von der Deportation der jüdischen Gemeinden von Thessaloniki und
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