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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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fahrenden Zug kann ich das nicht. Ich würde nach den ersten Schritten hilflos stürzen. Meine Muskulatur hat sich in den letzten Monaten noch mehr zurückgebildet, ich kann es deutlich spüren, wenn ich meine Waden und Oberschenkel am Morgen nach der Dusche mit Schlehdornöl einmassiere. Zusehends verändert sich der Körper, manchmal habe ich das Gefühl, diese Veränderungen gehen in einem rasanten Tempo vor sich. Innerhalb weniger Wochen tauchen wieder mehr bläuliche Äderchen auf den Fußrücken auf oder die rauhe Haut an den Wangen verfärbt sich bei jedem kleinsten Wind rot. Aber ich kann diesen Veränderungen nicht viel entgegensetzen. Ich kann mich eincremen, das Gewebe massieren und mich mit ihnen anfreunden. Früher hatte ich die Vorstellung, ich könnte auch im Alter schlank bleiben, wie ich es früher bis zur Geburt von Lena gewesen bin. Ich stellte mir vor, ich würde mit achtzig noch lange Wanderungen unternehmen oder durch die Stadt laufen können, langsamer zwar und nicht mehr so weit. Zu Ende des Krieges habe ich mich nur gefüttert, gewaschen, als ob es sich um den Körper einer Fremden handelte, den ich, wenn er nicht funktionieren wollte, als widerspenstiges Etwas empfunden habe. Den Hunger oder Schmerz nahm ich damals kaum wahr. Nach Kriegsende wusste ich nicht, ob Max noch lebte und wartete auf Nachricht, die dann nach Monaten endlich kam. Die Zeit bis zu seiner Rückkehr ist in einem Nebel versunken, mit langen Tagen zwischen den Diensten im Krankenhaus und der Arbeit im Haushalt gemeinsam mit Tante Else, begleitet von Onkel Heinrichs Groll gegen die Welt, die für ihn eine feindliche geworden war, seit ein Bombentreffer seine Kanzlei verwüstet hatte. Später, als sich die Verhältnisse langsam normalisierten und nach und nach wieder Hoffnung in den Gesichtern der Menschen zu sehen war, habe ich wieder angefangen, Sport zu treiben. Es folgten die lichten Jahre nach Maxens Entlassung aus der Gefangenschaft, die Hochzeit, von der meine Pflegeeltern zunächst nicht begeistert waren, weil Onkel Heinrich bereits einen seiner Angestellten als Schwiegersohn auserkoren hatte, der mich hofierte und eine hoffnungsvolle Laufbahn vor sich hatte, wie Onkel Heinrich betonte. Vielleicht war es auch Onkel Heinrichs Versuch, einen zukünftigen Konkurrenten an die Familie zu binden und so die Nachfolge zu regeln. Doch ich ließ mich nicht beirren, und später hat Heinrich auch nichts mehr gegen Max einzuwenden gehabt, schätzte ihn für seine widerständige Art, mit der er in den gemeinsamen Gesprächen seine Position ihm gegenüber behauptete. Heinrich starb zwei Jahre vor Maxens Unfall an den späten Komplikationen seiner früheren Darmoperationen und Else folgte ihm nach vier Monaten nach.
    Nach Maxens Tod habe ich mich immer mehr von den Menschen zurückgezogen und unternahm kaum etwas in der Freizeit. Damals war ich unleidlich und unwirsch bei der Arbeit und auch meiner Tochter gegenüber. Doch am schlimmsten war für mich die Zeit nach Lenas Auszug, denn ab diesem Zeitpunkt war ich zu allem auch noch allein. Inzwischen kann ich akzeptieren, dass mein damaliger Hausarzt Dr. Stern sagte, ich käme ihm depressiv vor. Ich habe stets versucht, nicht mehr an die Erlebnisse am Ende des Krieges zu denken, habe mich beim ersten Auftauchen von bösen Erinnerungen abgelenkt. Am besten kam ich wieder in ein inneres Gleichgewicht, wenn ich den Boden schrubbte oder die Küchenschränke ordnete. Manchmal war das wie eine Sucht, ich musste etwas tun, das hatte mir schon als Mädchen geholfen, wenn ich mich vor Else oder Onkel Heinrich zurückzog, ohne dass es ihnen besonders auffallen musste. Ich kann mich an wenige Ereignisse aus den Jahren nach Maxens Tod erinnern, ich war innerlich starr und reglos, und nur im Dienst hielt ich mich aufrecht, kümmerte mich um die Patienten und begann an den Wochenenden mit den »Naturfreunden« Ausflüge zu unternehmen. Diese Art, die Zeit in unverbindlicher Gesellschaft zu verbringen, versöhnte mich unmerklich wieder mit dem Leben. Aber das brauchte Zeit.
    Anfang der Achtzigerjahre habe ich, als mir Max immer wieder quälend in den Sinn gekommen ist, eine Reise nach Griechenland unternommen, ich wollte sehen, wo er während des Krieges stationiert gewesen war. Wir hatten oft von einer Reise dorthin gesprochen, Max hätte mir gerne die Landschaften gezeigt, von denen er, auch wenn er selten einmal über den Krieg sprach, immer geschwärmt hatte. Doch es war nie dazu gekommen. Der

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