Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
telefoniert, um herauszufinden, ob Max und Edgar in seiner Begleitung nach Österreich zurückkehren konnten.
    Im Sommer waren von der Lagerleitung Filme von Konzentrationslagern gezeigt worden, aufeinandergestapelte, ausgemergelte Leiber, das Innere von Gaskammern, Verbrennungsöfen. Die meisten Soldaten waren noch eine Weile schweigend mit gesenkten Köpfen dagesessen, hatten auf ein Schlusswort des Kommandanten gewartet, vielleicht auch auf den erlösenden Satz, dass alles nur erfunden sei. Auch nach dem Verlassen des Saales hatten sie kein Wort gesprochen, sondern sich in ihren Kojen verkrochen, nur ein paar hatten leise gesagt, die Filme seien nur Hetze und Propaganda der Engländer und Amerikaner, sie seien die Rechtfertigung dafür, dass sie mit ihren Bomben den halben Kontinent in Schutt und Asche gelegt hätten. Dann hatten einige Gefangene ihnen verboten weiterzureden, und zuletzt gab es eine Rauferei in der Schlafbaracke, die sich bald legte, nachdem der Älteste unter ihnen sich mit einem durchdringenden Pfiff bemerkbar gemacht und ihnen gesagt hatte, sie würden sich mit diesem Verhalten nur selber in ein schlechtes Licht rücken und die Entlassung weiter hinauszögern. Entlassen würde nur, wer sich anständig benehme, und er hätte keine Lust, wegen ein paar Rabauken auf unabsehbare Zeit englischen Lagerurlaub zu machen, während zu Hause seine Frau und die Kinder auf ihn warteten.
    Soldaten, die von der Ostfront an die Atlantikküste versetzt worden waren, hatten bereits vom Mord an Juden erzählt, 1942 habe das begonnen, Max hatte diese Berichte für Übertreibungen gehalten, für überspannte Mitteilungen von Männern, die durch das Töten und die Angst, die sie ausgehalten hatten, nicht mehr ganz zurechnungsfähig waren. Erschießungen, diese Szenen kannte er aus Griechenland, Hinrichtungen, gleich zehn auf einmal gehenkt auf einem Marktplatz, das Abbrennen ganzer Dörfer und Landstriche aus wehrtaktischen Gründen, wie es hieß, um Partisanen zu bekämpfen, die in den Bergen überall lauern würden. Das kannte er, aber das Morden in Gaskammern, daran konnte er nicht glauben, auch wenn einige Soldaten im letzten Lager in Southampton davon schon erzählt hatten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen dazu fähig waren.

ICE Basel Frankfurt Juni 2011
    … eine Fläche von blitzenden grauen Flecken in regelmäßigen Abständen schiebt sich vom Horizont im Nordwesten an die Stadt heran. Ich habe sie bereits entdeckt, laufe außer Atem die Häuserzeile entlang, zwei Straßen weiter im Park gibt es einen Bunker, den ich bei Bombenalarm zu erreichen versuche. Dort bin ich sicher. Die Holzstiegen nach oben, die Jungen müssen ganz hinauf, unten die Alten, die Kinder und Mütter mit schreienden Säuglingen. Doch es ist zu spät, das tiefe, alles durchdringende Brummen ist bereits über mir. Ich werfe mich auf den Boden, drücke mich gegen die Hauswand, die Handtasche über dem Kopf, die Finger in den Ohren, die Stirn auf dem harten Asphalt. Mit einem Schlag zittert die Erde, ich bin eingeschlossen in ein dröhnendes Krachen. Das Pochen des Herzens durchdringt die Höhle des Brustkorbs, den Hals, ein hohes Singen, das immer lauter wird, drängt von den Schläfen hinunter in den Bauch, in die Arme, die Beine, die ich nicht mehr spüre. Kalt. Ich sehe meinen Körper da liegen, wo ich ihn hingeworfen habe, sehe die Schatten der Flugzeuge lautlos über ihn hinweggleiten, einen nach dem anderen. In den benachbarten Straßen reißen Explosionen Dächer auf, Fassaden stürzen ein, Feuer lodern aus Fenstern in den Himmel, Menschen schreien. Schwarzer Rauch vermischt sich im Schwall mit dem alles überspannenden Blau des Firmaments. Ich entferne mich weiter vom Boden, schwebe über der Stadt, sehe die Feuersalven der Flaktürme Linien in die Luft schneiden, schwebe weiter. Ich habe den Frauenkörper bereits aus der Sicht verloren, tauche lautlos in die Wolken ein, die nur manchmal einen Blick auf das kleiner werdende Häusermeer freigeben. Stille …
    Ich war ein wenig eingenickt und jetzt steht der Zug auf offener Strecke zwischen Wiesenböschungen still. Das abrupte Bremsen hat mich aus dem Dämmerschlaf gerissen und wieder, wie oft in den letzten zehn Jahren, kommt dieser Traum. Seit dem 11. September ist er zu einem ständigen Begleiter geworden und manchmal genügt bereits der Gedanke an Krieg oder irgendein anderer Reiz, um ihn herbeizurufen. Aber er macht mir nicht mehr diese unbändige Angst, ich

Weitere Kostenlose Bücher