Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
wache nicht mehr schweißgebadet auf und habe rasendes Herzklopfen wie früher. Der Zug steht auf offener Strecke. Es dauert eine Weile, bis ich richtig wach bin. Eine Stimme aus dem Lautsprecher bittet um Geduld und plötzlich habe ich die Vorstellung, die Lock sei mit einem Menschenkörper zusammengeprallt. Ich sehe zerfetzte Därme und Gliedmaßen auf dem metallenen Bug der Zugmaschine, und, aus der Vogelperspektive sehe ich einen Mann auf den Geleisen stehen, aufrecht und starr. Der silberne Zug kriecht in Zeitlupe durch die Landschaft, unvermeidlich auf die winzige Figur des Menschen zu, der kaum noch zu erkennen ist. Dann aus dem Blickwinkel des Mannes, der schnell herannahende Zug. Mir ist, als ob ich durch meine Gedanken, durch meine Vorstellung, verhindern könnte, was geschehen wird, es muss mir nur gelingen, den Mann rechtzeitig auf die Seite springen zu lassen, bevor er erfasst und zerschmettert wird. Einige der Reisenden beginnen leise miteinander zu sprechen, so als ob die böse Ahnung, die alle erfasst hat, sie mit einem Mal einander näherbringt. Ein groß gewachsener Mann erhebt sich mit unbewegtem Gesicht von seinem Platz, rückt die Brille zurecht, die ihm tief auf der schlanken Nase sitzt und durchschreitet den Mittelgang, anfänglich verhalten, je näher er der Glastüre kommt, immer kräftiger. Ich kann von meiner Position aus mitverfolgen, wie er durch die nächste Türe weitergeht, an Tempo gewinnt, vielleicht ist er Arzt und will sehen, ob er helfen kann. Wenn ich könnte, würde ich ihm folgen, durch jahrelanges Training im Krankenhaus daran gewöhnt, dort hinzugehen, wo jemand in Not ist. Max konnte es früher manchmal kaum glauben, wenn er mit mir gemeinsam unterwegs war, wie häufig Menschen Hilfe benötigten, und er fragte mich einmal, nachdem ich einen Epileptiker, der in einem Restaurant auf der Toilette zusammengebrochen war und sich eine Platzwunde zugezogen hatte, versorgt hatte, ob ich Unfälle anziehen würde oder sie nur passierten, wenn ich zugegen sei. Endlich ertönt ein Rauschen im Lautsprecher. Im Hintergrund hört man aufgeregte Stimmen. Ich will das Wort »Personenschaden« nicht hören, mit dem der Suizid eines Verzweifelten in der Bahnsprache umschrieben wird. Bereits einmal war ich in einem Zug gesessen und hatte diese grausigen inneren Bilder vor mir, hatte ein Gefühl von Schuld, weil ich nichts tun konnte. Der Tote schickte die Reisenden auf ihre verzögerte Weiterfahrt, die sie dann bei ihrer Familie oder an ihrem Arbeitsplatz ankommen ließ, wo sie vom Tod berichteten, mit dem sie nichts zu tun hatten, der aber mit einem Mal zu ihnen gehörte und nicht mehr aus ihren Leben verschwinden würde. Das Geräusch im Lautsprecher verstummt, der junge Mann mit dem glänzenden Hosen blickt aus dem Fenster, drei Finger seiner rechten Hand reiben langsam aneinander, ein Fuß wippt schnell in kleinen Bewegungen.
Es ist wie damals auf der Reise von Frankfurt nach Basel, nach dem unglücklichen Aufenthalt bei Lena in London, den ich abrupt abgebrochen hatte, um mit einer der Nachmittagsmaschinen, auf der ich noch einen Platz bekommen hatte, wieder zurückzufliegen. Auch damals hielt der Zug abrupt auf offener Strecke. Angereist war ich, um meiner Tochter bei den Vorbereitungen für die Zeit nach der Geburt zu helfen. Ich war auf ihre Bitte hin gekommen und insgeheim hoffte ich, die Beziehung zwischen mir und ihr würde eine andere Wende nehmen. Es war im Mai Siebenundneunzig, zur selben Zeit, als Alexander nach Griechenland gefahren war, um seiner Cousine beizustehen, der es nach dem unerwarteten Tod ihres Ehemannes miserabel ging und die nicht in Lage war, die nötigen Formalitäten, die beim Verkauf des Hauses und bei der Verwaltung des Nachlasses anfielen, zu erledigen. Am dritten Tag nach meiner Ankunft in London hatten bei Lena viel zu früh die Wehen eingesetzt, und als Phillip und ich sie ins Krankenhaus brachten, wurde die Geburt ohne Zögern eingeleitet, um die Zwillinge zu retten. Phillip und ich haben im Warteraum gesessen, zwischen Dahindösen und nervösem Umherlaufen. Wir haben kaum miteinander geredet, obwohl wir uns gut vertrugen und schon lange Gespräche ohne Lenas Beisein geführt hatten. Wir durften nicht in den Kreißsaal, die Ärzte hatten von medizinischen Schwierigkeiten gesprochen, ein Kaiserschnitt könnte drohen. Trotz der Anspannung war es ein einvernehmliches Warten gewesen, und ich ahnte nichts Schlimmes, als wir hineingelassen wurden. Nach ein
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