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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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war.
    »Eins will ich dir noch sagen«, erklärte er stattdessen. »Du, und ganz allein du entscheidest, wann der Schalter umgelegt wird. Niemand sonst.«
    Sie stiegen im zweiten Stock aus dem Fahrstuhl, Frank zuerst, Martin direkt dahinter, gebeugt und blass. Eine Krankenschwester brachte sie zu dem Zimmer, in dem Steve lag und ließ sie dort allein. Martin stöhnte laut beim Anblick seines Sohnes, mein Junge, mein Junge, wiederholte er, was haben sie nur mit dir gemacht? Steve war in ein Netz von Kabeln und Schläuchen gefesselt, Elektroden waren auf dem kahlrasierten Schädel befestigt, als hätte sich ein riesiger Tintenfisch an ihm festgesaugt. Frank legte Martin eine Hand auf die Schulter.
    »Das ist doch kein Leben so«, sagte er.
    Jäh drehte sich Martin um und schob Frank zur Seite.
    »Woher weißt du das denn? Wie kannst du wissen, dass es kein Leben ist? Bist du Hellseher?«
    Es wurde so geregelt, dass Martin im Krankenhaus schlafen konnte. Frank wurde nicht länger gebraucht. Er fuhr zurück nach Karmack. Dann fiel ihm etwas ein: Wie sollte er ab jetzt tanken? Er fuhr weiter zu Millers Auto, nahm den Tankschlauch heraus, klemmte den Hebel fest und füllte den Tank. Das würde Steve ihm ja wohl gönnen. Sicherheitshalber ging er danach in die Werkstatt und fand einen Kanister, den er auch noch füllte. Der Mond biss sich am Himmel fest. Jetzt war es Steve, der nicht zu Hause war.
    Nach einer Weile fand Frank es ganz nützlich, in den Protokollen zu lesen. So konnte er vergleichen. In den guten Zeiten, die es einmal gegeben hatte, waren die Unfälle von anderem Kaliber gewesen. Man konnte laut über sie reden. Der Bauer verlor einen Finger im Mühlstein. Der Streckenarbeiter klemmte sich einen Fuß ein, als die Schwellen der Eisenbahnschienen festgezurrt wurden. Der Maurer fiel vom Gerüst und brach sich einen Arm. Unfälle im Dienste für das Land. In den schlechten Zeiten waren die Unfälle unfein, schmutzig und unwürdig. Schlechte Zeiten waren ein Unfall an sich.
    »Quält dich etwas, Frank?«
    Es war Blenda Johnson, die fragte. Sie aßen zusammen in der Mittagspause in seinem Büro. Wogegen Frank nichts hatte. Ihm gefiel es, wenn sie kam. Ihm gefielen die Schuhe, die sie trug, und ihre unaffektierte Frisur. Ihm gefiel die Art, wie sie sprach, und ihre Formen, die den ganzen Stuhl ausfüllten, den sie mitgebracht hatte, denn in Franks Büro gab es nur einen einzigen Stuhl, seinen eigenen. Jetzt saßen sie also da, jeder mit seinem Putensandwich.
    »Nein, was sollte das sein?«, fragte er.
    Blenda wischte schnell mit einem Zipfel der Serviette ein wenig Mayonnaise aus Franks Mundwinkel. Er zog sich sofort zurück. War es schon so weit gekommen? Konnte sie das einfach so machen?
    »Es wäre nicht so verwunderlich, wenn dich etwas quälen würde«, sagte sie. »Bei deinem Job. Den halten nicht alle aus.«
    Genau solche Dinge hörte Frank gern. Er legte Wert auf diese Worte. Und besonders, wenn sie von Blenda kamen. Sie wusste ihn zu schätzen. Und es gab da tatsächlich etwas, das ihn quälte. Was konnte man eigentlich als einen Unfall bezeichnen? Wenn jemand sich auf die Schienen legte und auf den Zug wartete, war das ein Unfall? Nein, ein Unfall ist nie geplant. Ein Unfall ereignet sich plötzlich und ohne Vorwarnung. Ein Unfall dauert nie lange. Der Schlag, der Steve traf, der war kein Unfall, doch dass er mit dem Kopf gegen die Jukebox stieß, schon. Als Franks Vater von der Leiter fiel, war es ein Unfall, doch dass er auf die Sense traf, was war das? Wurde sein Vater von zwei Unfällen zugleich getroffen? Ein Unfall kommt selten allein, aber wie viele können nacheinander kommen, bevor es sich nicht länger um Unfälle handelt, sondern um Schicksal?
    »Steve«, log Frank, »ich denke viel an ihn.«
    »Ja, schrecklich. Übrigens – wie geht es ihm?«
    »Sein Vater ist die ganze Zeit bei ihm.«
    »Das ist aber nett von ihm.«
    »Steve weiß nicht, dass er da ist.«
    »Trotzdem. Es wäre schlimm, wenn er die ganze Zeit so allein daliegen müsste.«
    Aber es war nicht Steve, den Frank in erster Linie im Kopf hatte, sondern all das andere, womit er sich herumschlug. Und vielleicht hatte es doch etwas mit Steve zu tun, denn war das nicht ein Vorwurf, den sie da äußerte? Dass Frank kein so guter Mensch war wie Martin, der Tag und Nacht bei seinem Sohn saß? Es war ungerecht, es war mehr als eine Andeutung, denn was sie eigentlich sagen wollte, war, dass er, Frank Farrelli, nicht für seinen Freund da war,

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