Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Flussi! Frank fand das auch ziemlich witzig. Sie lachten viel zusammen. Jetzt wurde er von diesen Erinnerungen nur trübsinnig. Der Nebel zog den Fluss herauf. Es regnete. Die Scheibenwischer hätten auch gern mal über seine Augen fahren können. Er stellte den Wagen hinter einem Krankenwagen ab, lief schnell ins Gebäude und nahm den Fahrstuhl hoch in den zweiten Stock. Hätte er etwas mitbringen sollen? Aber was bringt man jemandem mit, der im Koma liegt? Außerdem war es so oder so zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Als Frank aus dem Fahrstuhl stieg, hörte er Musik. Er ging zu dem Zimmer, in dem Steve lag. Von dort kam die Musik. Er erkannte den Song: B 12, Blue Skies . Frank trat ein. Martin saß am Bett seines Sohnes. Auf dem Nachttisch stand ein Plattenspieler. Frank wartete, bis der Stift auf der innersten Rille kratzte und ein klagendes Geräusch von sich gab, als hustete Ella Fitzgerald den letzten Ton.
»Er hört nicht die Bohne«, sagte Frank.
Erst jetzt entdeckte Martin Frank.
»Was weißt du denn davon?«
»Sieh ihn dir doch an. Sieht es so aus, als würde er es genießen?«
Steves Gesicht war seit dem letzten Mal angeschwollen, seine Hände auch, sie waren doppelt so groß wie normal. Er war kaum wiederzuerkennen. Frank setzte sich auf den anderen Stuhl, noch schlechter gelaunt. Hier lag seine Kindheit und verrottete.
»Was weißt du denn davon?«, wiederholte der Vater.
»Mein Gott. Sieh den Tatsachen in die Augen, Martin. Steve ist fort. Ich hätte nicht gedacht, dass du so dumm bist, dir selbst etwas vorzumachen.«
»Heute Morgen hat er mit dem linken Augenlid gezuckt. Ich schwöre es.«
»Das liegt nur daran, dass das tote Fleisch anschwillt.«
Martin zeigte Frank eine geballte Faust.
»Vielleicht gibt es doch etwas da drinnen, was etwas fühlt!«
»Da gibt es gar nichts da drinnen, Martin. Du kannst ebenso gut gleich den Stöpsel ziehen.«
»Den Stöpsel ziehen? Wovon zum Teufel redest du?«
»Den Schalter umlegen. Lass deinen Sohn gehen. Genau wie das Segelboot.«
Martin spielte noch einmal Blue Skies. Ella und das Orchester füllten den Raum. In der Musik schien eine Sonne, nicht so eine brennende Sonne, wie es sie in der Wüste gibt, sondern eine nachdenkliche, langsame Sonne, und die Trompete, das waren die Strahlen, die wie Regen fielen. Frank fühlte sich gemein und ratlos. So viel Sinnlosigkeit auf einmal. Wenn jemand Steve von dieser Welt abkoppeln würde, dann gäbe es etwas weniger Sinnlosigkeit. Wäre es besser, ein Grab zu haben, als hierherzukommen? Plötzlich war es ganz still im Zimmer.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte Martin.
»Was?«
»Er hat es wieder gemacht. Mit dem Augenlid gezuckt. Sieh nur!«
Frank stand auf und trat näher ans Bett heran. Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm. War das weiße Segel, dass sie draußen auf dem Fluss gesehen hatten, Steves Seele, die sie verließ?
»Ich habe es gesehen, Martin. Er hat mit dem Augenlid gezuckt.«
Blenda Johnson sagte Ja. Am letzten Samstag im Oktober trafen sie sich vor Smith’s Diner, fast das einzige Restaurant in Karmack, das noch geöffnet hatte. Sie gingen hinein und fanden einen freien Tisch. Sie hätten sich überall hinsetzen können, denn alle Tische waren frei. Was Frank im Grunde genommen entgegenkam. Wenn es zäh oder peinlich wurde, gab es zumindest niemanden, der sie sah, ausgenommen die Kellnerin, Sally Smith, die hier schon all die Jahre arbeitete und schon so ziemlich alles gesehen hatte. Sie kam zu ihnen, legte zwei Speisekarten auf den Tisch und erklärte, dass es in der Küche kein Entrecote, T-Bone und Steak mehr gab. Der Schlachter hatte letzte Woche geschlossen, und es war sonst nirgends vernünftiges Fleisch aufzutreiben. Ob sie etwas zu trinken bringen sollte, während sie sich ihr Essen aussuchten? Blenda wollte Rotwein, Frank eigentlich lieber ein Bier, bat dann aber auch um Rotwein. Als die Kellnerin mit den Gläsern zurückkam, waren sie sich einig geworden, zwei gebratene Hähnchen mit Pommes frites, aber im letzten Moment änderte Blenda doch ihre Meinung und bestellte stattdessen Fisch, das Tagesgericht, und das Tagesgericht war Barsch von gestern. Es sei so langweilig, das Gleiche zu essen, meinte sie. Jetzt konnten sie jeweils beim anderen auch probieren. Frank bereute es, kein Bier bestellt zu haben, oder am besten ein Canada Dry, falls etwas passierte und er ausrücken musste. Sie prosteten einander zu und redeten nicht viel, bis das Essen kam. Dann hatten sie
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