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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Mutter.«
    Sie nickte, mehrere Male, erschrocken und folgsam.
    »Noch ein großes Unglück hat mich getroffen, Mutter. Niemand …«
    Seine Stimme brach ab, und er lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. Er spürte, wie sie ihm die Hand in den Nacken legte. Noch einmal fühlte er Dankbarkeit. Sie tröstete ihn. Er brauchte Trost. Er verdiente ihn. So blieben sie eine Weile stehen. Dann schob sie Frank von sich, langsam aber entschieden, und zeigte auf ihn.
    »Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Verstehst du das?«
    »Mutter.«
    »Verstehst du das? Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.«
    Frank warf ihr das schmutzige Taschentuch zu und ging hinaus. Er ließ den Wagen stehen und lief die April Avenue hinunter. Es war kalt, windstill und verblüffend hell. Der leichte Schnee, der Frost, der alle Dinge bedeckte und sie in fremde Gegenstände verwandelte, in unnützen Schmuck, ließ an diesem Morgen alles glänzen und funkeln. Er kam an die Eisenbahnstrecke. Die Spuren der Mädchen waren fort. Er beugte sich hinunter, legte die Hand auf das Gleis und spürte es vibrieren, ein Getöse in weiter Ferne, nach Westen hin, das wieder verschwand und eine sonderbare, hohle Stille zurückließ. Er ging weiter, vorbei an dem stillgelegten Bahnhof. Er begegnete niemandem, und niemand begegnete ihm. Was sollte er mit all der Trauer, wenn es niemanden gab, der sie bewundern konnte? Seine Trauer kam nicht zu ihrem Recht. Bill McQuires Schlachterei war immer noch geschlossen. Im Fensterrahmen krochen Insekten herum. Über Smith’s Diner waren noch weitere Buchstaben auf dem Neonschild erloschen, das nur noch ein ausgebranntes, schiefes Alphabet war. Eine Speisekarte lag im Rinnstein und lockte mit dem Tagesgericht, das schon lange von gestern war. An der Tür zu Stout’s Barbershop hing immer noch das gleiche Schild, closed . Der kurze, hektische Aufschwung hatte Karmack, diese heimgesuchte Stadt, nur noch tiefer sinken lassen. Frank schaute sich um. Das kühle Licht ließ alles näher heranrücken, während gleichzeitig die Straßen und die Landschaft drum herum sich in einer Leere nach der anderen ausweiteten, eine leere Offenheit, Kreise von Leere, deren Zentrum er war, er befand sich in einer Glasglocke, in der alles festgefroren war, die Geräusche, die er hörte, waren dumpf und gedämpft, bald verschwanden auch sie, bald war kein Platz mehr für ihn in dieser engen Leere. Er fühlte sich verraten, von allen verraten. Er sagte es zu sich selbst: Niemandem geht es schlechter als mir in diesem Moment. Er hatte Aufmerksamkeit verdient. Mehr als jeder andere hatte er sie verdient. Er wollte Fürsorge haben. Man sollte sich um ihn kümmern. Doch es war niemand da. Es war niemand da, der ihn sehen konnte, und dann war alles umsonst. Mehrere Stunden lang lief er die verlassenen Straßen entlang, ohne dass ihn jemand anhielt. Zum Schluss kam er zum Friedhof. Er trat ein und fand nach vielem Mühen und Suchen das Grab seines Vaters hinten am Zaun nach Osten hin. Er war lange nicht mehr dort gewesen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal gewesen war. Wohl dann, als die Trauer über den Tod seines Vaters ein Ende nahm und niemand sich mehr darum kümmerte. Seine Mutter hatte all diese Jahre über das Grab gepflegt. Auch wenn schlechte Zeiten herrschen, muss das ja nicht bedeuten, dass es den Toten deshalb auch schlecht geht, sagte sie immer. Frank wollte nicht an sie denken. Auf der kleinen Grabfläche war Platz für weitere Tote. Blenda konnte hier liegen. Dann hätte er ein neues Grab, zu dem er gehen konnte. Er nahm sich vor, jeden Sonntag dorthin zu gehen, vielleicht sogar noch häufiger, und Allerheiligen würde er die schönste Kerze auf dem ganzen Friedhof für sie anzünden. Jemand rief seinen Namen. Frank drehte sich um. Der Pfarrer stand in der Tür zur Sakristei und winkte ihn zu sich heran. Frank ging langsam auf ihn zu. Wie geht einer, der trauert? Er beugte den Rücken. Er schlurfte mit den Füßen über den Boden und schleppte sich voran. Er blieb vor dem Pfarrer stehen und richtete sich auf, langsam und mühsam.
    »Hast du mein Taschentuch dabei?«, fragte der Pfarrer.
    Frank sah ihn nur an, diesen erbärmlichen, krankgeschriebenen Menschen, der die Trauer beschmutzte, der den Schmerz mit Dreck bewarf, der Flecken auf das Einzigartige warf und alles gewöhnlich und tot werden ließ. Er unterlag keiner Schweigepflicht mehr. Sie war aufgehoben. Frank selbst hatte sie aufgehoben. Er konnte

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