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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sprechen. Er musste nicht mehr innerlich brennen, und als er diesen Gedanken gefasst hatte, fing er an zu weinen.
    »Weißt du nicht, was passiert ist? Draußen in Martins Haus?«
    Der Pfarrer nahm seine Hand, nur für einen Augenblick, dann ließ er sie wieder los und zitterte, als käme die Kälte direkt von Frank.
    »Du kannst es morgen mitbringen. Das Taschentuch, meine ich. Zum Weihnachtsgottesdienst.«
    »Ich dachte, Sie wären krankgeschrieben.«
    »Ich bin ein Diener des Herrn, Farrelli.«
    Der Pfarrer lächelte und schloss die schwere Tür. Sein Atem hing ihm noch nach, eine weiße Wolke, die sich in der blauen, elektrischen Kälte auflöste. Frank hatte hier nichts mehr zu tun. Das war ein befreiender, abschließender Gedanke. Er ging zurück zur April Avenue. Er sah die Magnolienbäume vor sich, die in der kurzen Zeit geblüht hatten, als die Zeiten noch gut gewesen waren und alle einen Wagen in der Garage stehen und ein Hähnchen im Backofen gehabt hatten. Seine Mutter war nicht zu Hause. Vielleicht hatte sie sich auch schlafen gelegt. Frank wollte sowieso nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er holte die Keksdose, schob sich die Scheine in die Jackeninnentasche, ließ einige um des schönen Scheins willen zurück, ging hinaus zum Wagen, setzte sich hinters Steuer und sah zum letzten Mal das viereckige, niedrige Haus mit der schmalen Veranda, das sein Vater gebaut hatte, als alle noch jung waren und die meisten noch nicht geboren. Ich muss irgendwann die Dachrinne reparieren, dachte Frank, fuhr zu Millers Autowerkstatt, tankte Benzin, nahm eine Farbspraydose mit und fuhr weiter zur Stadtgrenze. Dort hielt er an, stieg aus dem Wagen und ging zu dem Schild, Karmack, Bevölkerungszahl 4897. Er übersprühte die letzten beiden Zahlen und zog alle ab, die tot waren, Mr Stout, Jimmy Stout, Mrs Ruth Clintstone, Marion Perkins, Martin Miller, Steve Miller, Bob Spencer und Blenda Johnson. Zum Schluss zog er sich selbst auch noch ab. Jetzt stand da: Bevölkerungszahl 4888. Dann fuhr Frank weiter den Snake River entlang, der unter dem Eis floss. Er kam an die erste Kreuzung. Er konnte entweder nach links fahren, nach Solvang, oder nach rechts, zum Meer. Es war einfach. Frank hatte noch nie das Meer gesehen. Er hoffte, bis dorthin zu kommen, bevor ihn jemand einholte. Nicht, dass Frank Farrelli es verdiente, aber es konnte ja sein, dass er ein wenig Glück hatte, ausnahmsweise einmal. Er gab Gas, bog nach rechts ab, und als er den weißen Mietwagen sah, der von links kam, aus Solvang, da war es zu spät. In dem kurzen Moment, bevor es knallte, dachte Frank, dass er jetzt zu seiner Mutter nach Hause fahren und ihr erzählen musste, was passiert war, wahrscheinlich war er tot, nur schade, dass er nicht derjenige war, der mit der Nachricht kam, und noch schlimmer war, dass niemand jemals Blenda von dem schrecklichen Unfall würde berichten können.

EPILOG
    (Späne und Staub)

D as Meer sammelt Flüsse.
    Dieser Satz brachte mich wieder in Gang. Ich fuhr den Snake River entlang, erst später erfuhr ich, dass er so hieß, in einem Mietauto, das schon bereitstand, als ich aus Sheppard P entlassen wurde, eine Institution oder ein Landsitz, wie wir es lieber nannten, gleich bei Baltimore, Maryland. Zwei Tage war es jetzt her, vielleicht auch mehr, was aber auch nicht so wichtig war. Die Zahlen hatten sich von mir gelöst. Ich rechnete nicht mehr mit ihnen. Ich war Herr über meine eigene Tabelle. Es war wunderbar. Ich trieb dahin. Es war natürlich abgemacht worden, dass ich direkt nach Baltimore fahren und von dort das Flugzeug nach Hause nehmen solle, via London. Aber ich entschied mich für einen anderen Kurs, genau den entgegengesetzten, nicht nach Hause, sondern fort. Ich fuhr auf gut Glück los, hatte keine Ahnung, wohin ich kommen würde. Vielleicht musste ich ganz bis an die Westküste, bevor ich anhalten konnte, oder an eine Grenze gelangen, Kanada, Mexiko, von mir aus gern, und eigentlich war es auch egal. Wo auch immer war mehr als gut genug. Kam ich an eine Kreuzung, warf ich die Münze, Krone nach links, Zahl nach rechts. Oder ich fuhr einfach geradeaus weiter. Es spielte keine Rolle. Die Welt gehörte mir, und die Welt war in meinen Augen neu zu entdecken. Ich schuf mir meine eigenen Gesetze. Ich kann es nicht anders bezeichnen als Freiheit. Welch vornehmes und verdammtes Wort! Ich hätte die Zeichen sehen sollen, umkehren und mich in einer Ecke verkriechen. So viel Optimismus konnte nichts Gutes versprechen. Ich

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