Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Jeder hört das heraus. Musik funktioniert ganz ohne Worte.
Sein Puls schlug kräftiger, er atmete schneller und seine Beine waren ein bisschen wacklig. Und da war noch ein Gefühl, eines, das er nicht zuordnen konnte. Aber so mochte es einem gehen, wenn man ein scheues Wildtier zu zähmen versuchte und es zum ersten Mal auf einen zukam.
Krass, dachte Nick. Das ist echt krass! Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. „Gute Nacht, Lina. Schlaf gut“, sagte er rau und laut genug, dass sie ihn hören musste. „Wir sehen uns morgen beim Frühstück, okay? Bitte sei da! Ich werde auf dich warten. Die ganze Zeit,“ fügte er eindringlicher hinzu.
Von Lina kam keine für ihn wahrnehmbare Reaktion.
Stattdessen erschienen Marion und Thomas. Nick erkannte sofort, dass sie Linas Summerei mitbekommen haben mussten. Ihre Gesichter leuchteten. Sie lächelten ein breites Lächeln. Ungetrübt, hoffnungsfroh und zufrieden.
Nick erwiderte es.
Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
„Bitte“, hat Nick gesagt. „Bitte sei da.“ Und: „Ich werde auf dich warten.“
Ich habe vergessen, wann mich jemand zum letzten Mal um etwas gebeten hat. Ganz zu schweigen, um meine Anwesenheit. Mir wurde warm davon. Richtig warm. Erstaunlich, oder? Hinter den Bögen meiner Rippen: das Herz so glühend und hell wie eine Kerzenflamme. Das haben Nicks Worte gemacht.
Er kann Gitarre spielen. Er mag Rockmusik. Genau wie du und ich, Bruder. Er ist größer als du. Ein ganz schönes Stück sogar! Und er sieht viel stärker aus. Ich glaube, er will sich mit mir anfreunden. Er scheint mich zu mögen …
„Bitte“, hat er gesagt. „Ich werde auf dich warten.“
Ob ich hinuntergehe? Ich weiß es nicht, Jan. Ich werde darüber schlafen.
Aber wenn ich es tue und er später einmal erfährt, was für Unaussprechliches ich getan habe – will er dann noch was mit mir zu tun haben?
Niemals. Melsnoi, Jan.
7
Als es dann tatsächlich passierte, konnten sie es kaum richtig fassen. Weder Thomas, noch Marion, selbst Nick hatte nicht fest damit gerechnet. Aber es war eindeutig keine Erscheinung, die sich am Morgen zaghaft zu ihnen an den Tisch setzte, sondern die leibhaftige Lina, in weißen Caprihosen und karierter Bluse. Das Haar trug sie zu einem langen Zopf zurückgebunden. Der Pfirsichgeruch ihres Duschgels umhüllte sie und legte sich sogar noch über den Kaffeeduft.
Wie vom Blitz getroffen starrten die drei sie an. Nur um sich danach eifrig zu bemühen, ihr ungläubiges Staunen abzumildern. Nick sträubten sich regelrecht die Haare vor Aufregung. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, sich einigermaßen gelassen zu benehmen. Er war heilfroh, dass sie ihren Platz wie üblich mitgedeckt hatten! Eilig schob er ihr sein geköpftes Ei hin. Er lächelte dabei.
Auf das Lächeln ging Lina nicht ein. Sie hielt den Blick auf ihr Frühstücksbrettchen fixiert. Das Ei jedoch verdrückte sie.
Nick fand es einfach nur großartig. Das Großartigste aber war, dass diese gemeinsame Mahlzeit keine Ausnahme bilden sollte.
Und so gewöhnten sie sich im Mühlenhaus allmählich daran, dass Lina von nun an zum Essen herunterkam und sich neben Nick niederließ.
Dabei vermied das Mädchen weiterhin Blickkontakte, sprach auch keine Silbe. Sie aß, was Nick ihr vorsetzte und erhob sich, sobald sie fertig war, um wieder im Sonnenzimmer zu verschwinden.
Das war wie bei der Vorführung eines Glockenspiels, das zu einer bestimmten Stunde losging, fand Nick. Die geschnitzten Puppen rauschten auf den dafür vorgesehenen Schienen heran, vollführten ein Kunststückchen oder Tänzchen, rauschten wieder ab in ihr Kämmerlein und alles war vorüber – bis zur nächsten Stunde.
So lief es mit Lina am Dienstag ab, am Mittwoch und ebenso am Donnerstag.
Auch die Frottiersachen verstopften noch ständig die Wanne, was Nick ziemlich auf den Geist ging, weil es bedeutete, es ging nicht weiter im Takt.
Dabei hatte er sich erhofft, dass Lina täglich neue Fortschritte machte und sich bereits in den buntesten Farben ausgemalt, wie sie bald mit ihm und der Clique durch den Sommer ziehen würde.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, gab es auch noch einen erneuten, unerfreulichen Zwischenfall! Und zwar am Sonntagnachmittag, als sie auf der Terrasse saßen. Es gab Waffeln mit Erdbeermarmelade und Sahne. Als Marion ein Glas mit der hausgemachten Konfitüre auf den Tisch stellte, sprang Lina völlig unerwartet auf und fegte es mit einer wilden Bewegung von der
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