Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
„Tanzschuppen“ und schloss um Mitternacht.
Das Gefühl, das ihn beim Betreten der kleinen und nicht eben spektakulär eingerichteten Diskothek überfiel, war ihm neu. Es war eine Mischung aus aufgeregtem Beben und erwartungsvollem Tosen.
Die Luft war gesättigt mit dem Geruch und dem Schweiß vieler Menschen. Auf der Tanzfläche, unter der altmodischen Discokugel, die von diversen, einfachen Lichtorgelreflexen beleuchtet wurde, drängten sich Tänzer. Die Musik wummerte mit zu vielen Bässen aus übergroßen, schweren Boxen.
Der Mix gefiel Nick unglaublich gut! Der DJ verstand es, die Menge zum Kochen zu bringen. Nick konnte sich sehr gut vorstellen, nicht nur Musik zu machen, sondern selbst aufzulegen.
Er und die anderen quetschten sich eng auf zwei Bänken an einem Tisch zusammen und bestellten Cola. Nick fühlte sich in dieser Umgebung nicht wie Nick Ritter, vierzehn Jahre alt, aus Dortmund, sondern wie David Guetta, House-DJ und Musikproduzent aus Paris.
Zumindest vermutete Nick, dass Guetta sich in einer ähnlichen Hochstimmung befand, wenn er in einem angesagten Klub auflegte. Und als „Where Them Girls At“ von ihm lief, ließ er sich zu seiner eigenen Verblüffung von Bianca auf die Tanzfläche ziehen … dabei konnte er gar nicht tanzen.
Erst zappelte er lächerlich herum. Es schien Bianca zu belustigen. Aber allmählich ahmte er ihre Bewegungen nach. Vermutlich verdankte er es seinem Sinn für Rhythmen und Musik, dass er sich am Ende locker bewegte. Jedenfalls tat sein Körper das Richtige, und Nick hatte jede Menge Spaß!
Es könnte gar nicht besser sein, dachte er. Außer, Katharina wäre hier.
Oder, noch besser, sie.
Lina Saizew.
Doch Lina begleitete Nick niemals. Nirgendwohin. Und ihre schmale Gestalt, die ihm und seiner Clique oft vom Sonnenzimmerfenster aus nachschaute, erschien Nick stets wie ein stummer Vorwurf.
Egal wie oft er versuchte Linas Neugierde zu wecken, in der Hoffnung, sie würde ihr Verhalten ändern, es funktionierte einfach nicht.
Bald fragte niemand seiner Freunde mehr nach dem seltsamen Mädchen am Fenster. Sie war da, wie eine Katze auf dem Fensterbrett da war – und genauso interessant. Das behauptete jedenfalls Melania. Bianca pflichtete ihr bei. Natürlich!
Blöde, eingebildete Zicken, dachte Nick sauer. Die haben doch null Ahnung!
Trotzdem kam er nicht umhin, ein Körnchen Wahrheit in Melanias Worten zu erkennen. Doch er kaute schwer daran. Allmählich begann er zu befürchten, dass es mit Lina niemals funktionieren würde.
Nie! Nie! Nie!
Oder doch? Manchmal, wenn er zur Gitarre griff, Lina an der Tür zum Mondzimmer saß und sie sich über die Distanz hinweg anblickten, hörte er, dass sie die Melodien noch immer mitsummte. Doch sobald er aussetzte, verstummte sie. Es schien, als wenn sie nicht wollte, dass jemand es hörte – oder aber, als wollte sie es lieber selbst nicht hören.
Eines Tages gelang es ihm jedoch, derart abrupt innezuhalten, dass noch ein leises Echo ihrer Stimme nachklang. Und war da nicht der Hauch eines Lächelns, als sie bemerkte, dass es ihm geglückt war, sie sozusagen zu überlisten? Oder hatte er sich geirrt? Er konnte es beim besten Willen nicht sagen.
„Du magst wohl Gitarrenmusik“, bemerkte er nicht sehr einfallsreich und rechnete mit keinerlei Reaktion. Er sprach mit ihr wie zu einem Haustier, von dem man keine Antwort erwartet.
Die Katze auf dem Fensterbrett.
Da hob Lina den Blick. Sie schaute ihn aus ihren graugrünen Augen direkt an, und sein Herz setzte aus, ehe es hart hinter seinem Kehlkopf weiterschlug, statt in seinem Brustkasten, wie es sich gehörte. Deshalb schaffte er es nur knapp, seine Frage zu wiederholen.
„Jan … timuch … ois“, kam die Antwort stoßweise aus Linas Mund.
Sie redete. Sie redete tatsächlich! Aber was sagte sie, verdammt noch mal? Nick hatte nur Bahnhof verstanden. Du Idiot, fuhren seine Gedanken ihn an. Frag nach! Mach schon, mach!
„Was hast du gesagt?“
„Jan timuch ois.“
Da war es wieder! Sie sprach klar und deutlich. Mit einer schönen Stimme, die sanft war und melodisch und weich und … und vollkommen zu ihr passte. In einer Sprache, die er ganz und gar nicht verstand. Bis auf ein Wort, einen Namen: Jan.
„Jan. Du meinst deinen Bruder?“
Lina nickte. „Dirbralongszwol.“
„Aha“, machte er ratlos. Er legte das Instrument zur Seite, zog das Kabel aus dem Verstärker und setzte sich Lina direkt gegenüber auf den Boden. Entgegen seinen Befürchtungen blieb
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