Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
den Stift zur Seite. Das klappte ebenfalls nicht. Es könnte sogar sein, dass in dieser speziellen Lina-Jan-Idioglossie das Alphabet nicht mit A begann, sondern mit L – wie Lina. Oder mit J. Wie Jan. Doch wenn er den Anfangsbuchstaben nicht kannte, würde er keine logische Folge finden. Wieso, verdammt, war ihm das nicht gleich aufgegangen?
Albash, der Cäsar-Code, solche Sachen funktionierten bestimmt wunderbar. – Auf dem Papier! Das war was für schriftliche Verschlüsselungen. Aber im Sprachgebrauch? Nahezu ausgeschlossen.
Nein. Es musste einfacher sein. Viel, viel einfacher! So simpel, dass man es im täglichen Leben normal sprechen konnte! Eine reine Übungssache.
Hinter seinem rechten Auge begann es zu pochen. Ihm brummte der Schädel! Rotwelsch. Keimisch. Mengisch. Lotegorisch. Albash. Der Cäsar-Code.
Shit!
Er steckte fest.
Nick gab einen frustrierten Laut von sich. Er erhob sich vom Schreibtischstuhl und schloss seine E-Gitarre an. Einige Minuten lang erging er sich in wiederholenden Sequenzen der ruhigeren Passagen von „Walk“. Erwartungsgemäß vertrieb die Melodie das Stechen aus seinem Kopf, lockerte die verspannten Nackenmuskeln und besänftigte die Seelenstelle im Bauch.
Prompt knurrte sein Magen.
Er legte das Instrument auf die Couch und ging in die Küche, wo er ein paar Scheiben Brot mit Käse belegte. Mit dem Teller machte er es sich im Wohnzimmer vor dem Riesenbildschirm bequem. Er zappte durch die Programme, wobei er es krampfhaft vermied, sich Nachrichtensendungen anzusehen, aus Furcht vor Meldungen über Jan. Schließlich blieb er bei den Simpsons hängen.
Nach zehn Minuten hörte er es.
Er traute seinen Ohren nicht.
Und doch gab es kein Vertun.
Das Geräusch kam von oben. Es war schon wieder verschwunden, als er die Glotze hastig ausschaltete. Gerade als er annahm sich doch getäuscht zu haben, erklang es erneut.
Langsam erhob er sich.
Ohne Zweifel.
Jemand spielte auf seiner Gitarre.
Keine Melodie, keine schlüssige Notenfolge. Bloß einige Töne von probeweise gezupften Saiten.
Lina.
Wer sonst?
Nick ging auf Zehenspitzen in das obere Stockwerk. Er tappte weiter zum Mondzimmer und beobachtete das Mädchen vom Gang aus.
Sie saß auf der Couch neben der E-Gitarre. Sanft strich Lina über die leicht reagierenden Saiten. Dabei legte sie den Kopf zur Seite, lauschte den Tönen aus dem Verstärker, spürte ihrem Schwingen nach.
Gut!, dachte Nick. Musik gefällt ihr. Und sie mag die Gitarre, spielt sogar damit herum.
Er fuhr vor Überraschung zusammen, als sie laut sagte: „Ritergo.“
Erneut zupfte sie an den Stahlsaiten.
Nick holte dreimal tief Luft, ehe er achtsam sein Zimmer betrat.
„Hallo, Lina“, er sprach nicht laut und unaufgeregt. „Da bist du ja. Gefällt dir meine Gitarre?“
Ihre Hände hielten inne. Sie sanken herab und lagen wie zitternde, bleiche Schmetterlinge auf dem Instrument.
Das Schlangenknäuel bildete sich in seinem Bauch. Er ließ es sich winden. „Lina? Gefällt sie dir? Die Gitarre?“
Ihren Gesichtsausdruck vermochte er nicht zu deuten.
„Das ist eine Paula.“ Er lächelte Lina zu. „Eigentlich heißt sie richtig Custom. Custom Les Paul – deswegen Paula. Die wiegt viereinhalb Kilo! Ganz schön schwer, oder? Es hat ziemlich lang gedauert, bis ich sie halten und spielen konnte, das kostet nämlich ‘ne Menge Kraft!“ Er näherte sich ihr. „Mittlerweile habe ich mich gut daran gewöhnt. Wie gesagt – sie ist eine Les Paul. Die werden von der Firma Gibson gebaut, in den Staaten. Ich finde, die Amis machen die besten Gitarren.“
Während er redete, nahm er weiter Kurs auf das Mädchen. „Les Paul, das war ein amerikanischer Gitarrist . Er hat Großartiges bei den Echo- und Halleffekten geleistet und die E-Gitarre weiterentwickelt. Ohne ihn wäre das Instrument nicht das, was es heute ist. Er war echt cool drauf, finde ich. Vorletztes Jahr ist er gestorben. Sie haben eine Gitarre nach ihm benannt: eine von ihm entworfene Solidbody-E-Gitarre. Sie gehört zu den berühmtesten Modellen der Welt und heißt Gibson. Gibson Les Paul .“
Gleich war er bei ihr.
„Die Custom ist nicht so berühmt wie die Gibson, aber ich steh’ auf sie. Wenn du magst, kannst du ruhig weiter darauf spielen.“ Nick blieb direkt vor Lina stehen. Sie roch nach Pfirsich. „Willst du?“
Er hielt den eben getanen Atemzug unwillkürlich in den Lungen fest – denn nach einer winzigen Pause nickte sie und sagte bedächtig: „Ej. Ihrs nigir.
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