Der Sommerfaenger
rührte Bert. Ihm war klar, dass er sie schonen sollte, doch er brachte es nicht fertig, sie weiter zu belügen.
»Es kann sein, dass sie sich in Gefahr befindet«, sagte er langsam. »Aber wir werden alles tun, um ihr zu helfen, das verspreche ich Ihnen.«
»Am besten, Sie rufen die Polizei«, riet Frau Sternberg ihm.
Ein Hüsteln von der Tür warnte ihn. Mit den Augen der alten Frau geschah etwas. Sie sahen ihn weiter an, doch ihr Blick wurde leer.
»Mach ich, Frau Sternberg.«
Bert strich behutsam über ihre Hand. Jetzt spürte er die Kälte ihrer Haut, die ihm vorher nicht aufgefallen oder die gar nicht da gewesen war. Ein dünner Speichelfaden lief aus dem rechten Mundwinkel der alten Frau. Sie wischte ihn nicht weg.
Das tat die Heimleiterin, die mit einem Papiertaschentuch leise an den Sessel herangetreten war. Sie zog ein Wolltuch aus dem Schrank und breitete es über Frau Sternbergs Knien aus. Dann folgte sie Bert auf den Flur hinaus.
»Jette hat recht gehabt. Sie steht kurz vor dem Absturz.«
Sie nestelte ein Handy aus der Tasche ihres Sakkos.
»Yasar? Ist jemand frei für Frau Sternberg? Sie sollte heute Abend nicht allein sein.«
Bert fragte sich, ob seine Fragen den Zustand der alten Dame so rapide verschlechtert haben konnten. Gegen Ende ihrer Unterhaltung hatte sie so klar gewirkt, und dann, mit einem Mal …
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Frau Stein, die zu ahnen schien, was in ihm vorging. »Mit Ihnen hat das nichts zu tun. Sie haben sich vollkommen richtig verhalten.«
»Danke.« Es war, als hätte sie ihm Absolution erteilt. »Das beruhigt mich sehr.«
»Wollen Sie noch jemanden sprechen?«, fragte Frau Stein.
»Wer, glauben Sie, könnte denn etwas über Jettes Pläne wissen?«
»Niemand außer Beckie, fürchte ich. Und Beckie ist ja nun …«
Ihre Unterlippe bebte, doch sie fing sich rasch wieder.
»Am ehesten noch der Professor«, sagte sie widerstrebend.
Bert erinnerte sich gut an den alten Mann, den er schon einmal befragt hatte. Er erinnerte sich auch an die Informationen, die er damals über Demenz gesammelt hatte.
Demenzkranke vergaßen ihren Namen. Sie bewegten sich wie Fremde in ihrer vertrauten Umgebung. Beim Anziehen brachten sie die Reihenfolge der Kleidungsstücke durcheinander. Sie bewahrten Bücher und Schuhe im Kühlschrank auf und verstauten Wurst und Käse in der Schreibtischschublade. Weil sie Wörter, die ihnen nicht einfielen, durch oftmals unpassende Begriffe ersetzten, konnte man sie irgendwann nicht mehr verstehen.
Das alles war schlimm genug.
Was Bert damals jedoch am meisten erschüttert hatte, war die Erkenntnis, dass nicht einmal gelehrte Menschen vor dieser Erkrankung gefeit waren.
Der Professor hatte sich genauso verloren wie Frau Sternberg. Im Angesicht dieser Krankheit waren alle gleich.
»Bringen Sie mich bitte zu ihm?«
Seufzend kehrte die Heimleiterin um und führte Bert in die entgegengesetzte Richtung. Sie ging so schnell, dass Bert Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
*
Sie war so schön, wie sie da stand.
Luke wagte kaum zu atmen, aus Angst, das Bild zu zerstören.
Die Sonne war bereits hinter den Bäumen verschwunden. Nicht mehr lange, und die Dämmerung würde ihre Schleier ausbreiten und Kristof und seinen Leuten ihre Arbeit unmöglich machen.
Selten hatte Luke den Beginn der Nacht so sehr herbeigesehnt.
Jette schaute sich suchend um. Hielt sie nach ihm Ausschau oder nach möglichen Verfolgern?
Etwas sagte ihm, dass sie zum ersten Mal seit Tagen sicher waren, und er wollte es unbedingt glauben. Keine Sekunde länger hielt er es aus, Jette vor sich zu sehen und sie nicht berühren zu können.
Er verließ den Schutz der Sträucher und trat auf die Lichtung hinaus.
*
Ich wollte auf ihn zulaufen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Es war wie in einem Traum. Alles hatte sich verlangsamt, jede Bewegung, jedes Geräusch. Auch Luke war stehen geblieben.
Über die Lichtung hinweg schauten wir uns an.
Aus einer hohen Buche wölkten schwarze Vögel auf und flogen davon. Etwas hatte sie erschreckt, aber ich konnte den Blick nicht von Luke abwenden.
Die Lichtung war groß und ich sah sein Gesicht nicht richtig.
Ich fragte mich, ob er lächelte.
Es lagen nicht nur an die hundert Meter zwischen uns, sondern auch all die Zweifel und Fragen der vergangenen Tage.
Und so viel Schmerz.
Luke breitete die Arme aus und tat den ersten Schritt. Und endlich löste sich die Starre in mir. Ich rannte ihm entgegen.
*
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