Der Sommerfaenger
die Gegend.
Ein paar Krähen staksten über die trockene Erde, kleine schwarze Totengräber. Schmetterlinge taumelten durch die Luft. Ein leichter Wind trug die Geräusche der Stadt herbei.
Kein menschliches Wesen weit und breit.
Luke hängte sich die Tasche um und ging mit großen Schritten davon. In seiner Hosentasche steckte ein Stadtplan. Von wo aus Kristof ihn auch immer beobachten mochte, Luke würde eine Spur kreuz und quer durch die Stadt ziehen, bevor er sich seinem wirklichen Ziel näherte, dem Parkhaus, in dem der neue Wagen wartete.
*
Imke Thalheim warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Seltsam. Luke verspätete sich doch sonst nicht. Sie hatten sich für heute verabredet, um neues Material für Imkes Homepage zusammenstellen.
Luke war längst mehr als eine Bürohilfe. Er verfügte über eine rasche Auffassungsgabe und eine respektable Allgemeinbildung, war intelligent und einfühlsam, hatte einen Blick für die Dringlichkeit von Aufgaben und war auch bereit, am Wochenende zu arbeiten, wenn es erforderlich war.
Er war ein Juwel.
Der einzige Makel, den sie bisher an ihm feststellen konnte, war die Tatsache, dass er ihre Tochter nicht glücklich machte.
»Woher willst du das wissen?«, hatte Tilo sie neulich gefragt.
»Eine Mutter weiß so was«, hatte sie sich sagen hören wie in einer alten deutschen Heimatschnulze. Sie hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Stattdessen hatte sie mit Angriff reagiert. »Und dir sollte es auch auffallen. Du bist doch hier der Psychologe.«
Tilo hatte sie an sich gezogen und sanft geküsst, und sie hatte sich entwaffnet gefühlt und war den Tränen nahe gewesen. Sah er denn wirklich nicht die durchscheinende Haut unter Jettes Augen? War ihm entgangen, wie dünn sie geworden war?
»Es ist nicht einfach für Jette, ihren Gefühlen wieder zu vertrauen«, hatte Tilo dicht an ihrem Ohr gesagt. »Geschweige denn einem Mann. Sie muss das Schritt für Schritt lernen.«
Der schreckliche Sommer.
Damals.
Über den Jette nicht sprach. Jedenfalls nicht mit ihrer Mutter.
Abermals schaute Imke auf die Uhr. Sie ging zur Haustür, öffnete sie und blickte hinaus. Hell strahlte der Kies auf der langen, gewundenen Auffahrt in der Morgensonne. Von Lukes altem Volvo keine Spur. Man hörte den asthmatischen Motor immer schon lange, bevor der Wagen um die Kurve bog.
Imke ließ den Blick schweifen. Es erfüllte sie mit tiefer Dankbarkeit, dass sie die alte Wassermühle gefunden hatte. Die Restaurierung des zweihundert Jahre alten Gebäudes hatte ein Vermögen verschlungen, doch es hatte sich gelohnt. Was für ein Privileg, mitten im Landschaftsschutzgebiet wohnen zu dürfen, umgeben von Wiesen, auf denen Schafe grasten und durch die sich ein kleiner Bach schlängelte.
Schönheit, wohin man blickte.
Und Einsamkeit.
Imke liebte es, allein zu sein, das Haus, die Landschaft und ihre Zeit mit niemandem teilen zu müssen. Sie liebte es, weil sie sich darauf freuen konnte, dass am Ende des Tages Tilo zu ihr heimkehren würde. Das Alleinsein war die eine Quelle ihrer Kraft, das Leben mit Tilo die andere.
Langsam zog sie sich in die Kühle der Eingangshalle zurück. Wasser des angezapften Bachlaufs plätscherte in einer schmalen Rinne durch den Raum, eine geniale Idee des Architekten, für die sie ihm heute noch die Füße küssen könnte. Sie machte sich einen Kaffee und stieg damit die Treppe hinauf.
Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass die Mühle im Lauf der Jahrhunderte schon so manches erlebt hatte. Freude und Glück, Tod und Schmerz. Dem Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel und friedliche Muster auf Fußböden und Wände malte, war das nicht anzusehen, aber Imke würde in ihrem ganzen Leben nicht vergessen können, dass inmitten dieser Mauern ein Mord geschehen war.
Regina Bergerhausen, ihre Putzfrau, einer der zuverlässigsten Menschen, die sie je kennen gelernt hatte, war hier von einem Stalker, der Imke nachgestellt hatte, getötet worden. Das war jetzt einige Monate her, und Imke hatte es immer noch nicht fertiggebracht, sich eine neue Putzhilfe zu suchen.
Es wäre ihr vorgekommen wie Verrat.
Imke zog die Schultern zusammen und betrat ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Das dunstige Blau des Himmels versprach einen weiteren heißen Sommertag, an dem selbst die Schafe in den Schatten flüchten würden, zu müde, um das sommerdürre Gras zu fressen. Wenn es so weiterging, würde der Bauer zufüttern müssen.
Obwohl
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