Der Sommerfaenger
sie wusste, dass sie keinen einzigen Satz zustande bringen würde, solange sie auf Luke wartete, fuhr Imke den Computer hoch. Während sie ihren Kaffee trank, klickte sie sich durch die neuesten Schlagzeilen, schaute dann nach, ob E-Mails angekommen waren und registrierte erleichtert, dass keine dabei war, die sie sofort beantworten musste.
Sie rief den neuen Roman auf, an dem sie gerade schrieb, und las die letzten Seiten noch einmal durch, um sich in Stimmung zu bringen, doch sie merkte, dass es ihr nicht gelang. Schließlich gab sie auf und beschloss, Jette anzurufen.
Wenn einer wusste, wo Luke stecken könnte, dann sie.
Mehrere Tage schon hatte sie nichts von ihrer Tochter gehört, und dass ihr das nicht schwergefallen war, machte sie stolz. Allmählich schaffte sie es, sich aus Jettes Leben herauszuhalten.
»Hi, Mama.«
Jettes Stimme klang anders als sonst, irgendwie vorsichtig. Als wollte sie etwas verbergen, dachte Imke, und ihre innere Alarmglocke schlug augenblicklich an. Sie unterdrückte ihre bösen Ahnungen und bemühte sich um einen lockeren Tonfall.
»Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.«
»Nein. Wir sitzen noch beim Frühstück.«
Im Hintergrund hörte Imke Stimmen. Das beruhigte sie sofort.
»Ist Luke zufällig bei euch? Ich warte auf ihn. Er wollte heute eigentlich zwei, drei Stunden für mich arbeiten.«
Das Zögern ihrer Tochter dauerte entschieden zu lange.
»Mama …«
»Was ist los?«
Imke hätte sich am liebsten in eine Ecke verkrochen und sich die Ohren zugehalten, wie es Jette früher getan hatte, wenn sie etwas absolut nicht an sich heranlassen wollte.
»Luke ist … weg.«
»Weg? Was soll das heißen, Luke ist weg?«
»Mama, reg dich bitte nicht auf.«
»Was meinst du mit aufregen? Wieso sollte ich mich denn … Jette, kannst du vielleicht endlich aufhören, so herumzudrucksen?«
»Lukes Mitbewohner ist … ermordet worden und Luke ist verschwunden.«
Imke sog scharf die Luft ein. Dann atmete sie langsam wieder aus.
»Seit wann?«
»Seit gestern Abend. Er wollte mich um acht von der Arbeit abholen, und als er nicht kam, bin ich zu seiner Wohnung gefahren.«
»Du bist zu … Etwa allein?«
Imke merkte selbst, wie unsinnig ihre Frage war. Wenn jemand nicht zu einer Verabredung erschien, gab es dafür in der Regel tausend harmlosere Erklärungen als die, dass sein Mitbewohner umgebracht worden war.
»Die Tür stand offen und dann …«
Oh Gott, dachte Imke. Bitte nicht.
»… dann bin ich rein und hab ihn gefunden. Albert. Er lag in der Wanne und …«
Du musst es mir nicht erzählen, dachte Imke. Quäl dich nicht.
Aber sie wollte es hören, unbedingt. Sie musste es wissen, um abzuschätzen, in welcher Gefahr ihr Kind sich befunden hatte und vielleicht noch befand.
»… und überall war Blut. Und ich bin raus und hab die Polizei angerufen, und ein Beamter hat mit mir geredet und mich beruhigt, und dann ist der Kommissar gekommen.«
Der Kommissar.
Imkes Herz tat einen kleinen Hüpfer. Sie verabscheute sich sofort dafür.
Sie hatte sehr bedauert, dass Bert Melzig sich nach Köln hatte versetzen lassen, und sie ahnte, dass sie selbst einer der Gründe dafür gewesen war. Als er es ihr erzählt hatte, waren sie mit keinem Wort darauf zu sprechen gekommen, aber beide hatten daran gedacht.
Wie sie ihn vermisste .
Köln ist eine Millionenstadt, dachte sie. Es wäre ein geradezu unheimlicher Zufall, wenn ausgerechnet Bert Melzig …
»Welcher Kommissar?«, hörte sie sich dennoch fragen.
»Bert Melzig«, sagte Jette leise. »Ich war so erleichtert, als er auf mich zukam, ich …«
Egal wie erwachsen ihre Tochter inzwischen auch sein mochte, ihre Stimme klang so armselig und so tapfer, dass Imke das Bedürfnis hatte, sie sofort in die Arme zu nehmen und mit sanften Lauten zu trösten.
Wie früher.
»Möchtest du reden?«, fragte sie. »Soll ich nach Birkenweiler …«
»Nein.«
Imke sah förmlich, wie Jette sich einen Ruck gab.
»Nicht nötig, Mama.«
»Und was ist mit Luke?«, fragte Imke. »Weißt du, wo er …«
»Er hat … mit mir Schluss gemacht.«
»Wie bitte?«
»Er hat mich verlassen.«
»Luke? Dich verlassen?«
Die Schriftstellerin in Imke registrierte, wie dramatisch sie die Frage aufgebaut hatte. Die Mutter spürte, dass sie der Tochter alles andere als eine Unterstützung war.
»Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte sie, ohne wirklich daran zu glauben und ohne einzugrenzen, worauf sie damit anspielte, auf Lukes Verschwinden, die
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