Der Sommerfaenger
Ermordung seines Freundes oder beides zusammen.
»Er hat mir eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen.«
»Und?«
»Er sagt, dass er nichts mit Alberts Tod zu tun hat. Und dass wir uns nicht mehr sehen dürfen.«
Imke blieb an einem Wort hängen.
»Dass ihr euch nicht mehr sehen dürft ? Was kann das bedeuten?«
»Er steckt in Schwierigkeiten.«
»In welchen Schwierigkeiten denn?«
»Ich weiß es nicht.«
Plötzlich war eine kalte Entschlossenheit in Jettes Stimme.
»Aber ich werde es herausfinden.«
Sie machte keinen Hehl aus ihrer Absicht, sich erneut in einen Mordfall einzumischen, und das zeigte Imke mit brutaler Deutlichkeit, dass aus Mutter und Tochter zwei gänzlich voneinander unabhängige Wesen geworden waren.
Etwas in ihr zersprang, und sie wusste, es würde niemals mehr ganz werden.
10
Selten war Luke für seine bemerkenswerte Kondition so dankbar gewesen wie heute. Jiu-Jitsu erforderte regelmäßiges, konsequentes und hartes Training, das er vom ersten Tag an durchgehalten hatte. Es hatte seine Muskeln und seinen Willen gestählt und ließ ihn Strapazen überstehen, vor denen die meisten Menschen kapitulierten.
Er lief durch die Aachener Straßen wie eine Figur in einem Computerspiel. Rauf und runter, hin und her, kreuz und quer. Gelegentlich zog er den Stadtplan zurate, damit er sein Ziel nicht aus den Augen verlor. Jede Einbahnstraße, jeden Laden und jedes Café mit Hintertür nutzte er, um den – oder die – möglichen Verfolger abzuschütteln.
In der Altstadt angelangt, fühlte er sich sicherer. Touristen bummelten durch die Straßen und Gassen, gaben sich in den Geschäften die Klinke in die Hand und stritten sich um die besten Plätze unter den Sonnenschirmen der Lokale und Eissalons. Luke hielt sich dicht an den Häusern. Dann und wann blieb er stehen, um sich umzusehen.
Niemand erschien ihm verdächtig.
Doch er durfte noch nicht aufatmen. Kristof war gefährlich und er war gut. Luke konnte sich an keinen Auftrag erinnern, den er verpatzt hätte.
Trotzdem wirst du mich nicht kriegen, dachte er.
Ihm war klar, dass er mit solchen Gedanken lediglich sein Durchhaltevermögen und seinen Mut beschwor, denn nur ein Irrer konnte ernsthaft glauben, Kristof und der Organisation entkommen zu können.
Die Reisetasche wurde immer schwerer. Luke gestattete sich eine kurze Rast in einem der Straßencafés. Er saß mit dem Rücken zur Hausmauer, sodass ihn niemand von hinten überraschen konnte. Umgeben von schwatzenden, lachenden Menschen trank er einen schwarzen Tee, aß dazu ein Baguette und merkte, wie er sich allmählich entspannte.
Die blutgetränkten Kleidungsstücke hatte er unterwegs in dem Container eines Supermarkts entsorgt. Das Handy würde er später austauschen. Er ließ es sicherheitshalber ausgeschaltet, damit es nicht geortet werden konnte.
Es kam ihm so vor, als wäre die Hitze heute noch schlimmer als in den vergangenen Wochen. Das T-Shirt klebte ihm wie eine zweite Haut am Rücken, und aus den Haaren tropfte ihm der Schweiß. Die Menschen waren leicht bekleidet, ihre Bewegungen sparsam und träge.
Im Schatten eines Hauseingangs sang ein großer, dünner Mann russische Lieder. Sie klangen traurig und sehnsuchtsvoll und trafen Luke mitten ins Herz. Er wandte sich ab und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Menschen in seiner Nähe.
Sie alle wirkten harmlos. Niemand vermied demonstrativ Blickkontakt, keiner beobachtete Luke aus den Augenwinkeln. Doch der Schein konnte trügen. Selbst die beiden Mädchen am Nebentisch, die unverhohlen mit Luke flirteten, waren unter Umständen von Kristof bezahlt. Kristof arbeitete gern mit Frauen. Sie waren wandlungsfähiger als Männer und besaßen oft mehr Fantasie.
Beinah Mittag. Immer mehr Menschen drängten in die Altstadt. Das kam Luke sehr gelegen. Er zog den Stadtplan hervor und prägte sich den Weg zum Parkhaus ein. Dann zahlte er, gab der Serviererin ein großzügiges Trinkgeld in der Hoffnung, dass es ihm Glück bringen würde, schnappte sich seine Tasche und tauchte in der Menge unter.
Eine Stunde später brachte er die Tasche an dem eigens dafür frei gelassenen Platz im Kofferraum eines schwarzen Golfs unter, setzte sich ans Steuer und verließ das Parkhaus.
Die Fahrt durch die Innenstadt verlief schleppend und zäh. Luke versuchte, das Beste daraus zu machen. Er wechselte die Spur, wendete mitten auf der Fahrbahn, kurvte durch jedes Nebengässchen, hielt an, fädelte sich wieder in den Verkehr ein und
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