Der Sommerfaenger
Frau Meuser. Die schüttelte unmerklich den Kopf und lenkte ihre Tochter mit einem Keks ab, den sie aus einer Dose gefischt hatte. Die Kleine zog sich wieder auf ihre Decke zurück und fütterte ihren Elefanten.
»Sie hat nichts mitgekriegt«, sagte Frau Meuser leise, »und das soll auch so bleiben. Wenn man sie nicht an Herrn Haller erinnert, wird sie ihn schnell vergessen. Bei Kindern ist das so.«
Ja, dachte Merle. Sie quälen sich nicht mit untreuen Liebhabern und aussichtslosen Liebesgeschichten. Sie leben einfach vor sich hin und nehmen die Tage, wie sie kommen. Sie beneidete das kleine Mädchen glühend.
»Es tut mir so leid, dass Ihre Babysitterin …« Jette holte tief Luft. »Es ist schrecklich, dass sie gestorben ist.«
Zwei einsame Tränen rollten über Frau Meusers Wangen. Sie drehte sich zur Seite, damit ihre Tochter es nicht sah.
»Aber ich weiß, dass mein Freund zu so etwas niemals fähig wäre.«
Merle beneidete auch ihre Freundin. Um ihre unbedingte Loyalität. Nicht für eine Sekunde zweifelte sie an dem Mann, den sie liebte. Merle hätte alles dafür gegeben, das auch von sich selbst behaupten zu können. Würde sie ebenso hinter Claudio stehen, wenn er unter Mordverdacht stünde und sämtliche Fakten gegen ihn sprächen?
»Er heißt nicht wirklich Haller?«, fragte Frau Meuser mit mühsam beherrschter Stimme.
Jette schüttelte den Kopf.
»Lukas Tadikken. Die meisten nennen ihn Luke.«
»Luke«, wiederholte Frau Meuser nachdenklich. »Der Name passt zu ihm.«
Sie legte Jette die Hand auf den Arm.
»Ich glaube auch nicht, dass er es getan hat. Obwohl«, wieder stiegen Zweifel in ihr auf, »obwohl ich mir absolut nicht vorstellen kann, wie der Täter in das Apartment gelangt sein soll. Das Türschloss ist intakt, keines der Fenster ist eingeschlagen worden …«
»Die Babysitterin hat ihn hereingelassen.« Hoffnungsvoll schaute Jette Frau Meuser in die Augen. »Kann doch sein oder?«
»Vielleicht.« Frau Meuser seufzte. »Lisa war so leichtgläubig. Sie traute keinem etwas Böses zu.«
Jette warf Merle einen triumphierenden Blick zu. Siehst du, bedeutete dieser Blick, jeder hätte das Apartment betreten können. Jeder.
Dabei hatte Merle das gar nicht abgestritten.
Frau Meuser rieb sich fröstelnd die Arme. Auch Merle verspürte ein tiefes Unbehagen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren und der Polizei die Arbeit zu überlassen.
Oh Gott, dachte sie. Ich vertraue den Bullen. Wie weit ist es mit mir gekommen.
*
Luke war einfach losgefahren. Rons Anblick hatte ihm einen solchen Adrenalinstoß verpasst, dass seine Nerven zu flattern schienen und er sich völlig überreizt und überwach fühlte, obwohl er seit zwei Tagen nicht geschlafen hatte, abgesehen von den wenigen unbequemen Stunden am Strand. Ron, ein Kraftpaket aus Muskeln und Sehnen mit dem Gehirn eines Hamsters. Das Klischee eines Kriminellen, in seiner Einfältigkeit besonders unberechenbar und gefährlich.
Der Blick in den Rückspiegel offenbarte nichts Bedrohliches, aber so erschöpft, wie Luke war, traute er seinen Wahrnehmungen kaum noch. Einmal war ihm ein blauer Mondeo aufgefallen, von dem er eine Weile geglaubt hatte, verfolgt zu werden, doch die Insassen hatten sich als harmlos entpuppt. Vater, Mutter und drei Kinder auf Ferienreise.
Glück gehabt, hatte Luke gedacht und sich gefragt, wie sehr sich sein Leben verändert haben musste, dass Glück für ihn inzwischen gleichbedeutend war mit Überleben.
Er fuhr auf der A 29 in Richtung Oldenburg, ohne sich bewusst für diese Strecke entschieden zu haben. Er brauchte ein Zimmer und ein Bett. Gut versteckt. Lange würde er nicht mehr durchhalten.
*
Gegen Mittag meldete sich Karsten Spengler. Lukas Tadikken war anhand des Fotos von der Pensionswirtin Frau Roosen und der Vermieterin des Ferienapartments, Frau Meuser, eindeutig identifiziert worden.
»Frau Meuser«, berichtete Spengler, »hatte gerade Besuch von zwei Mädchen aus Köln gehabt. Die eine war eine gewisse … Jette Weingärtner …«
»Und die andere war ihre Freundin Merle«, ergänzte Bert.
»Sie haben Ihre Informanten wohl überall, was?«
»Das nicht, aber die Mädchen kommen mir nicht zum ersten Mal in die Quere. Leider. Sie haben ein besonderes Talent, sich einzumischen und in Gefahr zu bringen.«
»Fast wären sie mir in die Arme gelaufen«, sagte Karsten Spengler. »Ich habe sie nur knapp verfehlt.«
»Sollten Sie ihnen tatsächlich begegnen«, riet Bert ihm,
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