Der Sommerfaenger
abgegeben und war mit dem Sprinter in Hildesheim angerückt, um Kristof zu unterstützen. Der Sprinter war für diese Zwecke ideal ausgerüstet. Eine Kochplatte, ein kleiner Wassertank, ein Minikühlschrank und zwei Schlafsäcke gewährten für eine ganze Weile Unabhängigkeit. Die Transportfläche war fensterlos und ideal, um die Ausrüstung und sich selbst vor neugierigen Blicken zu schützen.
Der Wagen fiel nicht auf. Er verschmolz förmlich mit dem Verkehr auf den Straßen. Und er war schnell genug, um rasch von irgendwo zu verschwinden oder sich auf der Autobahn nicht abhängen zu lassen.
Kristof hatte entschieden, Ron von Alex abzuziehen, weil er bemerkt hatte, dass Rons Aggressionspegel anstieg. Wenn es soweit war, dann musste man den Mann rechtzeitig bremsen, damit er mit seinem Hang zur Gewalttätigkeit keinen Erdrutsch auslöste.
Rons Einfall, sich Alex in diesem Nordseekaff zu zeigen wie eine Fata Morgana, war allerdings unübertrefflich gewesen. Der Kerl wusste, wie man Ängste schürte. Er wusste auch, wie man die schrecklichsten davon wahr werden ließ.
Kristof würde ihn noch eine Weile an der Kette halten. Erst wenn seine Rache vollendet war, würde er ihn auf Alex loslassen. Sollte Ron seinen Spaß mit ihm haben.
Den Todesstoß jedoch würde er selbst ihm versetzen. Das würde er sich von niemandem nehmen lassen.
Kristof schenkte Ron ein zerstreutes Lächeln. Es lohnte sich, die Geschwätzigkeit des Muskelpakets auszuhalten. Im geeigneten Moment würde Ron still sein. Und handeln. Dieser Mann kannte keine Skrupel. Das machte ihn wertvoller als Gold.
*
Luke betrat das Hotelzimmer, stellte sein Gepäck ab, verschloss die Tür und ließ sich auf das Bett fallen. Sekunden später schlief er tief und fest.
Im Traum ging er mit Jozefina eine lange, menschenleere Straße entlang. Er fühlte Blicke in seinem Rücken und zog unbehaglich die Schultern hoch.
Jozefina lachte seine Befürchtungen einfach fort.
Er übte seine neue Biografie. Namen der Eltern. Namen der Schulen. Namen der Lehrer. Umzüge. Arbeitsstellen. Freunde. Verwandte. Jahreszahlen. Er kriegte und kriegte sie nicht in den Kopf.
Jozefina fing an, ein Lied aus ihrer Heimat zu singen. Die Worte waren warm und weich, die Melodie klang nach Herbstlaub und mildem Sonnenlicht.
»Hör auf«, bat er sie, »sonst merke ich mir die Daten nie.«
Aber Jozefina lachte und sang lauter.
Der Schuss traf sie in den Rücken und ließ sie zu Boden sinken. Blut lief in einem dünnen Rinnsal aus ihrem Mund. Sie blickte durch Luke hindurch auf etwas, das sie zum Lächeln brachte.
Als sie die Augen schloss, verwandelte sich ihr weißes Gesicht in das von Jette.
Keuchend fuhr Luke auf, einen stummen Schrei auf den Lippen.
Im ersten Moment fand er sich nicht zurecht, wusste nicht, wo er war. Dann kam die Erinnerung zurück. Das Licht hatte sich verändert. Es war fast schon dämmrig im Zimmer.
Luke stand auf und trottete benommen ins Bad. Er duschte lange, ließ das Wasser so heiß über den Körper rinnen, wie er es gerade noch ertrug. Danach zog er sich wieder an und bestellte sich etwas zu essen aufs Zimmer.
Das Mädchen, das ihm eine Viertelstunde später das Tablett nach oben brachte, war dasselbe, das ihm an der Rezeption den Zimmerschlüssel ausgehändigt hatte. Wahrscheinlich bereitete sie morgens auch das Frühstück zu. Das Hotel war nicht groß, da musste bestimmt jeder anpacken, wo er konnte.
Kamenz lag knapp dreißig Kilometer von Bautzen entfernt. Luke war in die Höhle des Löwen zurückgekehrt.
Heller Wahnsinn.
Aber vielleicht schützte ihn das sogar, denn falls es ihm mittlerweile gelungen sein sollte, seine Verfolger abzuschütteln, würden sie ihn hier ganz sicher nicht suchen.
Er verschlang das Putensteak mit Curryreis und die Extraportion Salat und bestellte noch ein Baguette mit Schinken und Käse hinterher. Das Mädchen setzte es schmunzelnd vor ihm ab und räumte dann das bereits benutzte Geschirr auf dem Tablett zusammen.
Ihr Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht war sie ein, zwei Jahre älter als Luke. Das würde das Selbstbewusstsein erklären, das sie ausstrahlte. Ihr rundes Gesicht mit den vor Eifer geröteten Wangen wirkte jedoch jünger und stand in deutlichem Kontrast zu dem harten Dialekt, der ihre Worte färbte.
Eine von hier, dachte Luke und lächelte sie an. Ob sie weiß, in welchem Rattennest sie gefangen ist?
Wahrscheinlich nicht, gab er sich selbst die Antwort. Leo hatte niemals hinausposaunt, womit
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