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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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es hell werden. Ich sah zum wohl zehnten Mal an diesem Abend nach, ob das Flurfenster geschlossen war. Dann holte ich meine Armbanduhr aus dem Bad: Viertel vor zwei. Wenn es bloß schon Morgen wäre. Ich war müde, aber nicht schläfrig, und wenn man Angst hat, kriecht die Zeit im Schneckentempo dahin. Meine noch immer schweißnasse Haut prickelte, und mir war plötzlich kalt, sodass ich die dünne Bettdecke vom Boden aufhob und mich darin einwickelte, ehe ich mir eine weitere Zigarette anzündete.

    Wie gern hätte ich mir jetzt eine Tasse Tee gemacht, aber der war ja leider aus. Vielleicht stand noch irgendwo ein Rest Whisky herum. Ich ging in die Küche und zog einen Stuhl vor den Hochschrank. Er enthielt eine Menge leerer Flaschen, die ich eines Tages zum Glascontainer bringen würde, aber keinen Whisky. Immerhin entdeckte ich eine Flasche Pfefferminzlikör, den ich von einem Verwandten zu Weihnachten bekommen und bisher noch nicht angerührt hatte. Ich schenkte einen Schluck davon in eine Tasse, von der der Henkel abgebrochen war. Das Zeug war grün, zähflüssig und extrem süß. Es rollte wie ein brennender Ball meinen Rachen hinunter.
    »Bäh!«, sagte ich laut. Erst jetzt bemerkte ich, wie still es geworden war, wenn man von den gelegentlichen kleinen Erschütterungen absah, die durch vorbeifahrende Lastwagen verursacht wurden. Nur hin und wieder hörte man auf dem Gehsteig noch die Schritte eines Fußgängers.
    Inzwischen war es Viertel nach zwei.
    Eingewickelt in meine Decke, schlurfte ich ins Bad hinüber, putzte mir die Zähne und kühlte mein heißes Gesicht mit Wasser. Dann legte ich mich ins Bett und versuchte, nicht mehr nachzudenken, was mir aber nicht gelang. Im Geist ging ich die beiden Briefe noch einmal durch. Obwohl ich den ersten weggeworfen hatte, konnte ich mich noch ziemlich genau an den Text erinnern. Den zweiten hatte ich auf meinen Schreibtisch gelegt. Die Polizei war offenbar nicht davon überzeugt, dass er von derselben Person stammte, während ich mir da ganz sicher war. Sie nahmen die ganze Sache nicht ernst. Sie wussten nicht, was für ein Gefühl es war, als Frau allein in einer schäbigen Wohnung an der Holloway Road zu leben und Angst zu haben, dass draußen jemand stand und einen beobachtete.
    Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, holte ich den Brief, kehrte damit ins Bett zurück und las ihn ein weiteres Mal. Mir war klar, dass dieser Mann mich tatsächlich beobachtet, dass er genau hingesehen und dabei Dinge entdeckt hatte, die nicht einmal mir selbst aufgefallen waren, wie beispielsweise der Fleck am Finger. Er hatte mich auf eine Weise studiert, wie man es häufig nicht einmal bei einem Geliebten tat. Er war hier in meiner Wohnung gewesen, das wusste ich ganz genau, egal, was die Polizei sagte, und er hatte sich meine Sachen angeschaut, sie womöglich auch berührt. Vielleicht hatte er meine Briefe gelesen, in meinen Fotos und Klamotten gewühlt. Es war sogar denkbar, dass er etwas mitgenommen hatte. Er hatte mich beim Schlafen beobachtet. Er wolle in mich hineinsehen, schrieb er.
    Nicht in mir sein, sondern in mich hineinsehen. Mir war plötzlich übel, aber vielleicht lag das nur an dem Pfefferminzlikör oder an den anderen Sachen, die ich im Lauf des Abends getrunken hatte, oder an dem schweißtreibenden Sex oder an meiner Müdigkeit oder …
    ach, verdammt.
    Ich schloss die Augen und legte einen Arm übers Gesicht, sodass ich mich in völliger Dunkelheit befand.
    Draußen vor meinem Fenster lauerte London, eine Stadt voller Augen. Ich hörte einen Regentropfen, dann noch einen. Meine Gedanken rasten weiter, es gelang mir einfach nicht, mich zu beruhigen. Immer wieder ging ich im Geist den Brief durch.
    »Wie gesagt.« Das war das Komische daran. In welchem Zusammenhang hatte er das noch mal geschrieben? Er wollte in mich hineinsehen. Wie gesagt. Aber das hatte er vorher doch noch gar nicht gesagt, oder doch? Ich versuchte, den ersten Brief zu rekonstruieren. Den genauen Wortlaut hatte ich zwar nicht mehr ganz genau im Kopf, aber daran hätte ich mich bestimmt erinnert. Was bedeutete das?
    Mir kam ein Gedanke, den ich am liebsten ignoriert hätte. Mit trockenem Mund setzte ich mich auf, schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo ich die Pappschachtel unter dem Sofa hervorzog. Sie enthielt Dutzende von Briefen, die ich zum Teil gar nicht erst geöffnet hatte. Es würde wahrscheinlich Ewigkeiten dauern, sie alle durchzusehen. Ich kehrte ins

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