Der Sommermörder
viel Leim, sodass die betreffende Bahn dunkle, feuchte Flecken aufwies, aber das würde bestimmt trocknen.
»Was um alles in der Welt machst du da?« Clive stand in der Tür und starrte mich an. Er trug ein weißes Hemd, rote Boxershorts und die Socken, die er letztes Jahr vom blöden Weihnachtsmann bekommen hatte.
»Wonach sieht es denn aus?«
»Jens, es ist mitten in der Nacht!«
»Und?« Er sagte nichts mehr, sah sich lediglich im Raum um, als wüsste er nicht recht, wo er war. »Was spielt es für eine Rolle, ob jetzt mitten in der Nacht ist?
Was spielt es für eine Rolle, wie spät es ist? Wenn es kein anderer macht, muss ich es eben selbst tun. Und es wird bestimmt kein anderer für mich machen, da kannst du Gift drauf nehmen. Eins habe ich inzwischen wirklich gelernt: Wenn man will, dass etwas getan wird, dann muss man es selbst tun. Pass um Himmels willen auf, wo du hintrittst!
Wenn du mir jetzt alles ruinierst, muss ich noch mal von vorn anfangen, und dazu fehlt mir die Zeit. Wie war dein Tag? Gut, nehme ich an, sonst wärst du bestimmt nicht bis drei Uhr morgens im Büro geblieben, stimmt’s, Liebling?«
»Jens.«
Ich stieg mit der klebrigen, verdrehten Tapetenbahn die Leiter hinauf. »Ich bin selbst schuld«, sagte ich. »Ich habe zugelassen, dass alles auseinander bricht. Erst ist es mir gar nicht aufgefallen, aber inzwischen sehe ich völlig klar.
Ein paar blöde Briefe, und schon lassen wir das Haus verkommen und verdrecken. Völlig bescheuert.«
»Jens, hör endlich auf damit! Es ist sowieso alles schief.
Außerdem hast du Leim im Haar. Komm von der Leiter runter!«
»Die Stimme des Herrn!«, fauchte ich.
»Du bist ja völlig durcheinander!«
»Ach, was du nicht sagst! Wundert dich das vielleicht?
Nimm deine Hand von meinem Knöchel!«
Er wich einen Schritt zurück. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz hinter meinen Augen.
»Jenny, ich rufe jetzt Dr. Thomas an.«
Ich sah zu ihm hinunter. »Alle reden in diesem Ton mit mir, als wäre mit mir was nicht in Ordnung. Aber mir fehlt nichts. Sie brauchen bloß diesen Kerl zu fangen, und alles ist wieder, wie es war. Und du –«, ich deutete mit meinem leimtriefenden Pinsel auf ihn, sodass ein Tropfen auf seiner gerunzelten, zu mir emporgewandten Stirn landete,
»– du bist mein Ehemann, falls du das vergessen haben solltest. In guten und in schlechten Tagen – und jetzt haben wir gerade die schlechten.«
Ich versuchte die Tapete an der Wand glatt zu streichen, indem ich mich auf der Leiter hinunterbeugte, bis mir der Rücken wehtat, aber die vielen Falten blieben. Das feuchte Nachthemd klatschte gegen meine Schienbeine, und Schmutzkörnchen stachen mir in die Fußsohlen.
»Es ist sinnlos«, sagte ich, während ich mich im Raum umblickte. »Es ist völlig sinnlos.«
»Komm ins Bett.«
»Ich bin überhaupt nicht müde.« Ich war tatsächlich nicht müde, ganz im Gegenteil, ich sprühte vor Energie und Wut.
»Aber wenn du etwas für mich tun möchtest, kannst du Dr. Schilling anrufen und ihr sagen, dass langweilig wohl das beste Wort dafür ist. Sie weiß dann schon Bescheid.
Übrigens siehst du mit deinen Socken richtig lächerlich aus«, fügte ich boshaft hinzu.
»Wie du meinst.« In seiner Stimme schwangen Gleichgültigkeit und Verachtung mit. »Mach doch, was du willst! Ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett. Die letzte Bahn hast du übrigens falsch herum hingeklebt.«
Um sechs brach Clive zur Arbeit auf. Er rief einen Abschiedsgruß zu mir herein, aber ich machte mir nicht die Mühe zu antworten. Chris stand an diesem Tag allein auf. Ich forderte ihn auf, sein Frühstück selbst zu machen.
Ein paar Minuten lang stand er in der Tür und sah mir zu.
Dabei machte er ein Gesicht, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Allein schon sein Anblick – er trug seinen blauen, mit Teddybären bedruckten Schlafanzug, hatte den Daumen im Mund und starrte mich aus traurigen Augen an – ließ mich vor Wut und Ungeduld fast platzen.
Er versuchte, mich zu umarmen, aber ich schüttelte ihn ab und erklärte, dass ich ganz klebrig sei. Als Lena eintraf, rannte er zu ihr, als wäre ich seine böse Stiefmutter. Meine neueste Busenfreundin, eine kleine Beamtin mit dem Gesicht eines Fuchses und dem Nachnamen Page, marschierte im Haus herum und überprüfte, ob alle Fenster verriegelt waren. Als sie ins Gästezimmer trat und mich in zurückhaltendem Tonfall begrüßte, tat sie so, als fände sie es ganz normal, dass ich im
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