Der Sommernachtsball
sie doch nicht alle las, so wie sie es vorgehabt hatte. Aber sie nähte viel und nahm Tinas Angebot an, ihr ein wenig das Sticken und Französisch beizubringen.
Tina war komisch, seit sie aus Stanton zurück waren. Irgendwie anders. Viola hatte erwartet, dass sie sich wegen Adrian Lacey die Augen ausheulen würde, stattdessen war sie gelassen und heiter. Auch wenn Viola sie ab und zu (wenn sie mal aus ihrem eigenen Kummer auftauchte) dabei ertappte, dass sie höchst besorgt dreinschaute. Sie machte jeden Tag einen langen Spaziergang, manchmal nahm sie Viola mit, doch meistens ging sie alleine. Fahrstunden nahm sie keine mehr, das war unnötig. Sie konnte jetzt so gut fahren, dass sie mit der Familie oft lange Ausflüge machte.
Saxon war auch schlecht gelaunt. Viola hörte ihn nicht mehr pfeifen. Fawcuss, Annie und die Köchin gaben der Hoffnung Ausdruck, er würde allmählich Vernunft annehmen und seine egoistische, leichtfertige Ader ablegen und anfangen, regelmäßig in die Kirche zu gehen. Zweifellos, so sagten sie zueinander, habe ihn dieser grässliche Streit mit seiner Mutter und diesem Mann damals im Sommer, vor allen Leuten, ganz schön mitgenommen. Das konnte man sehen. Es war nicht leicht für ihn, bestimmt nicht, aber am Ende vielleicht eine ganz gute Lehre.
Tina erwähnte Victor nur gelegentlich, wenn die Rede auf die Springs kam. Viola, die vernünftig sein wollte, schloss sich ihrem Beispiel an. Sie glaubt wahrscheinlich, dass ich nie über ihn wegkomme, wenn sie ihn andauernd erwähnt, dachte sie. Trotzdem, ich wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich reden könnte. Ach, es ist alles so schrecklich. Ich wünschte, sie wäre wieder mehr so wie am Anfang, als ich zu den Withers gekommen bin. Sie ist in letzter Zeit so seltsam. Irgendwas ist da im Busch.
Shirley hatte sie bisher nur wenig von Victor erzählt und das auch nur in dem halb beschämten Ton, in dem die Mitglieder der Meute redeten, wenn es sie »erwischt« hatte. Aber Shirley hatte lediglich gefaucht, warum schnappe sie sich den Kerl dann nicht? Das sei doch nicht so schwer. Und sie hatte ihr ein paar ätzende Tipps gegeben, wie man sich einen Mann einfängt, die Viola wenig hilfreich fand. Arme Shirley, hatte Viola gedacht und ihre Freundin liebevoll gemustert, sie ist bloß deshalb so vergrätzt, weil sie daherkommt wie eine Tonne.
Während Sible Pelden allmählich in Winterschlaf sank, hatten die Springs in London eine tolle Zeit. Sie residierten im Dorchester, unweit der großen, luxuriösen Wohnung der Barlows und in Reichweite des Buckingham Square, wo früher das alte Buckingham House gestanden hatte und nun neue Luxus-Apartmentblöcke in die Höhe schossen. Victor und Phyllis planten, sich eine der besten Wohnungen zu sichern.
Phyllis war im siebten Himmel. Sie war mit einem reichen, sympathischen Mann verlobt, der ihr in fast allem ihren Willen ließ, sie wurde von anderen jungen Männern umschwärmt, die sie zu gerne geheiratet hätten und ihrer Enttäuschung darüber offen Ausdruck gaben. Ihre Tage waren ausgefüllt mit Anproben, Friseurbesuchen, Schönheitsbehandlungen, Tänzen und Partys. Jede Sekunde war verplant, und sie kam selten vor drei Uhr morgens ins Bett. Für Einrichtung und Ausschmückung der neuen Wohnung war zwar noch genug Zeit, das konnte sie auch nach Weihnachten erledigen, dennoch schaute sie gelegentlich bei Ausstellungen von modernen Möbeln und Textilien vorbei, um Ideen zu bekommen. Auch mit der Planung ihrer Aussteuer hatte sie bereits begonnen und schon ein paar neue Kleider bestellt, da sie damit rechnete, dass die Modehäuser im Frühjahr 1937 ausgelastet sein würden. Sie nahm all ihre Aktivitäten schrecklich wichtig, und das waren sie vielleicht ja auch, denn immerhin hielt das Handel und Wirtschaft in Schwung.
Victor ließ sich den ganzen Wirbel, den seine Verlobte veranstaltete, gutwillig gefallen. Er arbeitete in der Zeit vor Weihnachten besonders hart am Projekt in Bracing Bay, das nach einigen Rückschlägen nun gut vorankam. Der Bau konnte im Frühjahr beginnen. Trotzdem gelang es ihm, genug Zeit mit seiner Verlobten zu verbringen, um den Gepflogenheiten – soweit noch vorhanden – Genüge zu tun und Miss Barlow selbst mehr als zufriedenzustellen. Sie fand, dass Vic sich überraschend gut entwickelte, auch wenn es immer noch ein wenig mühsam mit ihm war.
Phyllis hatte ebenso wenig Ahnung von Psychologie wie ihre Rivalin in Essex, trotzdem wunderte sie sich manchmal gereizt, warum sie
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