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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
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Psychologie Zuflucht. Als junges Mädchen hatte sie oft vor sich hingeträumt, aber als sie sich mit Psychologie zu beschäftigen begann, versuchte sie das, mit teilweisem Erfolg, bleiben zu lassen. Sie träumte nicht von Saxon. Sie wollte einfach nur bei ihm sein und die ruhige, verzauberte Luft einatmen, die er verbreitete. Wenn sie nicht bei ihm war, sehnte sie sich nach seiner Gegenwart, aber sie erlaubte es sich nie, ihre Fantasien von der Leine zu lassen. Sie wollte gar nicht. Wenn sich manche Frauen verlieben, dann reichen ihre Gedanken nicht über die Gegenwart hinaus (auch wenn es Männern schwerfällt, das zu glauben), und Tina gehörte zu ihnen.
    Am Morgen nach dem Ball lag sie wie üblich im Bett und starrte zum offenen Fenster hinaus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und ließ ihren Tee auf dem schwarzen Lackkästchen abkühlen. Ihre Gefühle waren in Aufruhr; Scham, Zorn, Angst, Liebe und eine ganze Menge anderer, kleinerer, aber unangenehmer Gefühle schwappten in Wellen über sie hinweg und zehrten an ihren Kräften. Sie wünschte aus ganzem Herzen, sie hätte gestern den Mut gehabt, Saxon zu sagen, dass sie heute keine Fahrstunde nehmen würde.
    Aber hingehen musste sie, oder er würde glauben, dass seine Küsse für sie mehr waren als nur ein verrückter Moment im Mondschein.
    Außerdem wollte sie ihn sehen. Gleichzeitig graute ihr davor. Wie unangenehm starke Gefühle doch sind, dachte Tina zornig. Sie vergaß ganz, wie oft sie in der Vergangenheit so dagelegen, aus dem Fenster auf den sich mit den Jahreszeiten verändernden Himmel geschaut und sich sehnlichst gewünscht hatte, etwas, IRGENDETWAS zu fühlen.
    Auf einmal kam ihr eine alte, vernachlässigte Freundin in den Sinn: Selenes Töchter , treuer Ratgeber für die Frau von heute, verächtlich in eine Unterwäscheschublade verbannt. Was Frau Doktor Hartmüller wohl zu der kräftezehrenden, erniedrigenden Situation zu sagen hätte, in die sie sich hineinmanövriert hatte? Ich habe versucht, Vernunft und Psychologie miteinander zu vereinbaren, deshalb ist es schiefgegangen, dachte Tina. Ich habe meinen Gefühlen nachgegeben, mich aber trotzdem noch von der Vernunft regieren lassen. Entweder das eine oder das andere, beides zu mischen ist ein Rezept für Desaster. Wenn ich da wieder einigermaßen heil rauskommen will, muss ich mich entscheiden, klar entscheiden. Und diese Entscheidung dann kühl und mit Klugheit in die Tat umsetzen und mich nicht von meinen Gefühlen durcheinanderbringen lassen.
    Also: Was will ich?
    Gar keine leichte Frage. Vor allem dann nicht, wenn im Innern ein Gefühlssturm tobt. Und es erschreckte sie, dieses kalte Kalkulieren: zu überlegen, was man wollte. Und es sich dann zu holen, einfach so. Aber tut man das nicht auch, wenn man sich den richtigen Stoff zum Besticken aussucht? Warum also nicht mit den eigenen Gefühlen?
    Also: Will ich vernünftig oder unvernünftig sein?
    Beides.
    Aber was will ich lieber?
    Unvernünftig sein. Aha.
    Wie unvernünftig?
    Ich will … Gar nicht so einfach. Tina runzelte vor Anstrengung die Stirn.
    Ich will mit Saxon zusammen sein. Ich will, dass er mich küsst. (Sanft! Nicht so stürmisch wie gestern. Na ja, vielleicht doch so stürmisch, aber dieser Wunsch ist eher unbewusst! Nicht bewusst.) Will ich ihn heiraten? Nein! Ganz bestimmt nicht. Das wäre eine Katastrophe. Es ist immer ein Fehler, wenn eine Frau »unter ihren Verhältnissen« heiratet – bei Männern dagegen scheint das gut zu gehen. Will ich eine Affäre mit ihm? Nein, gewiss nicht. Ich würde es hassen, es wäre vulgär und abscheulich und würde alles verderben, dieses ganze Gefühl, dass er untrennbar mit meiner Jugend verbunden ist.
    Ich glaube – ja! – sie setzte sich erregt im Bett auf –, ich glaube, ich möchte, dass wir Freunde werden. Genau! Ja, das ist es. Ich will, dass er mein guter Freund wird, ich will mit ihm lachen und Witze machen, Spaziergänge unternehmen, reden, als wäre er wieder der Junge im roten Pulli und ich im selben Alter.
    Aber (und sie ließ sich wieder zurückfallen) als er ein Junge war, war ich eine zweiundzwanzigjährige junge Frau.
    Dieser Gedanke ernüchterte sie, aber nicht lange. Jetzt, da sie wusste, dass sie Saxons Freundschaft ersehnte, hielt sie nichts mehr davon ab, sich diese kühn zu erobern. Sicher wird es ihm anfangs komisch vorkommen, er wird vielleicht kaum glauben, dass das alles ist, was ich will. Aber ich kann es ihm klarmachen, ich weiß, dass ich es kann,

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