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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
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möglichen und unmöglichen Gründe), warum er sich nicht bei ihr meldete.
    Sie wusste, dass er nicht offiziell mit dem atemberaubenden Mädchen verlobt war; doch irgendwann kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht heimlich, also inoffiziell mit ihr verlobt sein könnte. Dann hätte er aber nicht so meine Hand drücken dürfen, dachte sie empört.
    Und damit kam sie der nüchternen Wahrheit so nahe wie nie zuvor. Aber weil sie so nüchtern war, wies sie diese Wahrheit gleich wieder von sich.
    Ihn anzurufen traute sie sich nicht. Sogar Shirley, deren Methoden bei Männern ebenso unkonventionell wie erfolgreich waren, hielt es für »dämlich«, einen Mann anzurufen, dem man erst einmal begegnet war, außer man hatte einen wirklich handfesten Grund, etwa einen todsicheren Tipp für’s Derby oder die Nachricht, er sei Vater geworden. Und selbst dann würde sie davon abraten. Dann können wir also gar nichts tun , hatte Viola verzweifelt gesagt, und Shirley hatte geantwortet: Du hast’s erfasst, Darling. Wahlrecht, Marie, Dauerwelle und all das, und wir können nichts machen.
    Ihr Stolz, von dem Viola mehr hatte als die gebildetere, intelligentere Tina, hielt sie davon ab, Grassmere auf ihren Spaziergängen zu nahe zu kommen. Und da sie nicht das Glück hatte, noch mal im Wald auf Hetty zu treffen und ihn zu Gesicht zu bekommen, fühlte sie sich immer elender. Hinzu kam auch noch, dass sie auf dieser Welt jetzt nur noch fünf Shilling und drei Halfpence besaß.
    Sie hätte sich zu gerne jemandem anvertraut, schreckte aber aus irgendeinem Grunde davor zurück, Shirley einen langen Brief über Victor zu schreiben. Dieses Gefühl war zwar vage, aber stark genug, um sie vom Schreiben abzuhalten. Tina war die nächste offensichtliche Wahl, und sie gab ihr am Tag nach dem Ball auch die Gelegenheit, etwas Derartiges zu tun. »Du hast ganz schön Eindruck auf den jungen Spring gemacht, oder?«, fragte sie beiläufig. »Was hältst du von ihm?« Aber sie klang selbst so niedergeschlagen und gleichgültig, dass Viola lediglich hastig antwortete, er sei ein fantastischer Tänzer, und sehe er nicht wirklich gut aus? Weiter habe sie sich keine Gedanken über ihn gemacht; sie hatten ja nur einmal miteinander getanzt. Tina antwortete eher gereizt, ja, ja, er sehe gut aus, sei aber nicht ihr Typ. Mehr Worte fielen nicht.
    Viola kam nicht auf den Gedanken, ihre Gefühle zu analysieren, und selbst wenn sie es versucht hätte, wäre sie zu einem falschen Ergebnis gekommen. In den ersten Tagen nach dem Ball lebte sie in einem Rausch der Hoffnung. Die Zeit flog nur so dahin, und selbst alltägliche Dinge bekamen jetzt Glanz. Sie sagte sich nicht: Ich liebe Victor Spring , aber sie dachte Tag und Nacht mit glühender Bewunderung an ihn. Ganz abgesehen vom Glanz seiner Position wurde ihr alles, was mit ihm zu tun hatte, jeder Gegenstand, lieb und teuer.
    Sie war erfüllt von unschuldigem Snobismus. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, sich in Saxon zu verlieben, der besser aussah als Victor und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung näherkam. Nein, Saxon war ein Arbeiter, man verliebt sich nicht in einen Arbeiter. Man suchte sich zu verbessern, Stufe für Stufe. Selbst wenn Saxon nicht für ihren Schwiegervater gearbeitet hätte, wäre es ihr nicht eingefallen, sich in ihn zu verlieben. Er war ja nur ein Chauffeur.
    Heil dir, Snobismus, in Frack und Nerz!
    Du allein führst England himmelwärts.
    Es war Tina, die Möchtegern-Realistin, welche unter Saxons gefährlicher Schönheit und seiner niederen Herkunft eine Qualität erkannte, die der Liebe würdig war und mehr noch ihrer ungeliebten älteren Schwester, der Achtung.
    An ihren Kindheitstraum von einst, irgendwann einmal Victor Spring heiraten zu wollen, dachte Viola dieser Tage nie. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich jedes Mal, wenn sie aus dem Haus ging, zu fragen, ob sie ihm wohl heute begegnen würde oder, wenn das Telefon klingelte, ob er das war. Zum Träumen hatte sie keine Zeit.
    Tina ebenso wenig. Sie hatte das Träumen aufgegeben, als sie dreißig wurde, was nicht nur an dieser desillusionierenden Altersschwelle lag, sondern vor allem an den Psychologiebüchern, die sie mit großem Interesse zu lesen begann. Sie alle verkündeten, mit lautem Schall wie die Trompeten von Jericho, wie gefährlich es sei, sich in Tagträumen zu verlieren. Tina, die keinen Glauben, keinen Ehemann und keine Kinder besaß – doch irgendetwas braucht der Mensch –, suchte in der

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