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Der Sommersohn: Roman

Der Sommersohn: Roman

Titel: Der Sommersohn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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Wenn ich Mom die Wahrheit erzählte, dann, so wusste ich, müsste ich Milford und meinen Vater verlassen, wahrscheinlich für immer. Diese Endgültigkeit machte mir Angst, darum brachte ich Mom am anderen Ende der Leitung lieber in Verwirrung.
    Die Entscheidung oder vielmehr der Zwang, den Mund zu halten, hatte eine schwere Belastung zu Folge. Auch als Erwachsenerdenke ich jetzt fast jeden Tag über eine Frage nach, die ich nicht beantworten kann. Hätte ich Mom die Wahrheit gesagt, hätte man dann Jerry finden und überreden können, das Ganze noch einmal zu überdenken? Hätte das Schicksal unserer Familie womöglich eine andere Wende genommen?
    Aber das hieße ja, den Schmetterlingseffekt heraufzubeschwören, nach dem die von einer Entscheidung ausgelösten Wellenbewegungen alles verändern. Man kann unmöglich wissen, was sich ergeben hätte, wenn Jerry geblieben wäre. Und diese Ungewissheit setzt mir von Mal zu Mal ein bisschen mehr zu.

MILFORD | 29. JUNI 1979
    Am nächsten Morgen traf uns Toby um fünf im Diner. Schon beim Reinkommen warf er mir einen nervösen Blick zu. Offensichtlich war mein rastloser Vater besser gelaunt, eine Entwicklung, die Toby und mich jedoch noch weiter verunsicherte.
    »Der letzte Tag vor dem Urlaub, Leute«, sagte Dad und prostete uns mit der Kaffeetasse zu. »Machen wir was draus!«
    Wir langten tüchtig zu beim Frühstück, froh darüber, dass die Schlinge gelockert worden war. Wir wollten nicht riskieren, dass er sie wieder fest zuzog, indem wir ihn fragten, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden geändert hatte.
    Es war sowieso nicht wichtig.
    Ich rollte mich auf den Rücken mit der Schmierpresse in der Hand, bereit, unter dem Wasserwagen an die Arbeit zu gehen. Mein Ziel waren kleine Abflüsse aus Stahl an den Fugen – Dad nannte sie Nippel, eine Bezeichnung, die einen Jungen schon zum Kichern bringen konnte. Aber die sahen ja auch echt so aus. Ich musste sie finden, die Verlängerung der Schmierpresse über sie stülpen und pumpen, bis die Fugen gefüllt waren.
    Ich drückte mit meinen Stiefelabsätzen gegen die bröselige Erde und schlängelte mich von hinten unter den Truck. Ich fand die Nippel auf der Hinterachse und dem Verteilergetriebe, fixierte die Gummiverlängerung mit der linken Hand, hielt die Metall röhre der Presse an meine rechte Seite und drückte viermal ab. Fertig.
    Ich stieß mich wieder mit den Füßen ab und robbte weiter zum vorderen Ende des Trucks. Ich war etwa einen halben Meter gekrochen, als etwas schwer gegen meinen Helm knallte, sodass er verrutschte.
    Ich neigte den Kopf und hätte mir fast die Hose vollgemacht. Eine Klapperschlange rollte sich um das Vorderrad auf der Beifahrer seite und zuckte wütend mit dem Schwanz.
    Ich erstarrte, unterdrückte aber den Impuls, schnell nach rechts und unter dem Truck hervorzurollen. Das traute ich mich nicht. Eine Bewegung, und sie könnte erneut angreifen. Da ich sie jetzt fixierte, würde sie mich nicht wieder verfehlen. Warmes Wasser lief mir am Bein hinunter, als meine Blase nachgab.
    »Mitch, beeil dich!« Dad kam von der anderen Seite des Wasser wagens herum, um nachzusehen, was da so lange dauerte. Er trat gegen meinen Fuß. Mein Zusammenzucken veranlasste die Klapper schlange zu einem erneuten Warnsignal.
    »O Scheiße!«, sagte er. »Mitch, wo ist sie?«
    »Rechtes Vorderrad!«, quiekte ich. Die Schlange beharrte auf ihrer Warnung. Ich starrte in ihre nachtschwarzen Augen und wartete in Todesangst.
    Ich hörte, wie sich Dads Schritte entfernten. Später erfuhr ich, dass er in großem Bogen auf die andere Seite des Wasserwagens ging, um die Schlange nicht aufzuschrecken. In meiner Angst glaubte ich, dass er wegging, und geriet in stille Panik. Die Schlange und ich verharrten in auswegloser Starre. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren, und die Schlange witterte keinen sicheren Ausweg. Der dicke metallische Geschmack der Angst breitete sich in meinem Mund aus.
    Dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie das Schaufelblatt langsam von der anderen Seite des Trucks hereinkam. Ich hielt den Atem an und behielt die Schlange im Auge, die mich ihrerseits genauso intensiv beobachtete.
    Es endete abrupt. Dad ließ das Schaufelblatt auf den Hals der Schlange niedersausen, und die zappelte wild umher. »Jetzt!«, schrie Dad, und Toby packte meinen Fuß und zog mich von der anderenSeite heraus. Mein Kinn schlug auf den Boden, meine Zähne schlugen in meine Zunge, rissen eine klaffende Wunde hinein

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