Der Sommersohn: Roman
schon.«
»Aufhören«, schrie ich. »Aufhören!« Es nutzte nichts. Dies alles spulte sich automatisch ab. Sie hörten nicht auf mich.
Zu Dads Rechten war ein Bild von Marie und ihrer Mutter, die vor ein paar Jahren gestorben war. Dad trat darauf zu.
»Wage es nicht, Jim!«
»Das würde ich doch nie tun, meine Süße. Ich weiß doch, wie viel dir das bedeutet.«
Er schlug auch in dieses Bild. Es fiel zu Boden in einem wüsten Haufen aus Rahmen, Fotopapier und Glasscherben.
Ich drehte mich zu Marie um. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Doch sie war nicht erschüttert. Ihre Augen blitzten, und fast war es ... Gott, ja. Sie lachte.
»Ach, Jim, du bist wirklich durchgeknallt«, gackerte sie. »Ich bin froh, dass du endlich dein wahres Gesicht gezeigt hast, und ich bin froh, dass Mitch das sieht. Ich will, dass es keinen Zweifel daran gibt, wenn sie dich holen kommen.«
Dad machte zwei energische Schritte auf sie zu, und sie kam ihm auf halbem Weg entgegen.
»Mich holen kommen? Mich holt keiner ab«, sagte er. »Die kommen dich holen, wenn ich dich an die Luft setze, mit einem Tritt in den Arsch. Es ist vorbei. Aus und vorbei. Ich hab die Schnauze voll. Wir sind quitt.«
»Freut mich«, sagte sie. »Noch eine Minute länger mit dir, und ich hätte mich umgebracht. So sehr widerst du mich an.«
Dad hob die Hand, wie um Marie zu schlagen. Blut tropfte von seinen Knöcheln. Sie wich nicht aus. Ich dachte, sie ist ja verrückt, als sie sagte: »Tu’s doch. Tu’s doch. Ich bitte darum.«
Dad ließ die Hand sinken. Er grinste.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte er. »Ich hol die Knarre, und wir können das alles hier hinter uns bringen.«
Ich nahm die Beine in die Hand und raste durch die Diele. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich war todsicher, dass mein Vater mir auf den Fersen war, auf der Suche nach einer Knarre, um dem ganzen Elend ein Ende zu bereiten.
Ich knallte die Zimmertür zu und schloss ab. Dann bemerkte ich voller Panik, dass ich in der Falle saß. Ich konnte mich nicht unters Bett verkriechen. Tatsächlich erwog ich einen filmreifen Anlauf auf das Fenster, konnte mir aber nicht vorstellen, durch das splitternde Glas wohlbehalten auf der anderen Seite zu landen. Ich kletterte in den Wandschrank und zog die Schiebetür zu. Im Dunkeln biss ich mir auf die Unterlippe und betete, dass Dad mich nicht atmen hörte. Die Chancen dafür standen nicht schlecht; im Wohnzimmer tobte immer noch der Kampf, der Ton wurde immer schärfer, während Dad und Marie ihre allerletzten Ehestreitigkeiten voreinander ausbreiteten und dafür sorgten, dass es kein Zurück mehr gab.
Ich saß zwischen Schuhen und Jerrys Sachen und wartete, und ich fragte mich, ob sich der Sturm jemals legen würde.
BILLINGS | 21. SEPTEMBER 2007
»Gerade fertig geworden«, sagte ich, als Dad aus dem Truck stieg. Ich machte eine Armbewegung über das gemähte Rasenstück. Dad nickte und ging zur Treppe, und ich folgte ihm.
Drinnen umschlichen wir uns. Ich hing meinen Gedanken nach und er anscheinend seinen eigenen. Wie sehr ich mich auch auf das konzentrierte, was vor mir lag, immer wieder kehrte ich zu den flehentlichen Briefen zurück.
Kelly Hewins. Den Namen hatte ich nie gehört, weder von Dad noch von Mom. Wer war sie?
Falls Dad meine geistige Abwesenheit bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Er saß in seinem Lieblingssessel und ließ die Nachmittagsfernsehshows vorbeiflimmern.
Gegen sechs Uhr klingelte mein Handy. Ich sah auf dem Display, wer anrief, und atmete aus.
»Hi, John.«
»Mitch.«
»Was gibts?«
»Ich komme gleich auf den Punkt. Ich muss wissen, ob du Montag wieder hier bist.«
»Das kann ich nicht sagen, John. Vielleicht. Ich bezweifle es allerdings.«
»Wieso?«
»Die Dinge sind ein bisschen ... also, sie kommen im Moment in Fluss.«
»Aha. Also: Ich habe Geduld bewiesen, Mitch, aufgrund dieser Sache und aufgrund deiner Krise. Ich dachte, du würdest dich wieder berappeln. Das machst du ja immer. Aber ich weiß nicht, wie weit ich noch gehen kann.«
Ich warf einen Blick auf Dad, der mich jetzt ansah.
»Die Frage kann ich nicht für dich beantworten, John.«
»Vielleicht haben wir einen Punkt erreicht, an dem wir darüber reden sollten, ob dies für beide Seiten noch eine gute Situation ist.«
»Das können wir gern tun, wenn ich zurückkomme.«
»Aber du weißt nicht, wann das sein wird?«
»So ist es.«
John hielt inne, und ich machte keine Anstalten, die Pause zu
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