Der Sonntagsmann
»Wir würden gerne ein paar Worte mit Ihrem Nachbarn wechseln«, meinte Didriksen. »Wissen Sie, wo er gerade stecken könnte?«
»Meinen Sie Nordlys?«, fragte die Frau und deutete auf Bjerres Haus.
»Wird er so genannt?«, wollte Didriksen wissen.
»Seit seiner Kindheit«, antwortete die Frau.
Elina machte rasch einen Schritt auf die Frau zu. »Entschuldigen Sie. Was haben Sie eben gesagt? Wie haben Sie ihn genannt?«
»Nordlys.«
»Das bedeutet Nordlicht auf Norwegisch«, meinte Didriksen.
Nordlys. N. Auch dieses Rätsel war gelöst. Aber vielleicht nützte ihnen das nichts.
»Er fährt oft zum Fischen raus«, meinte die Frau.
»Wohin?«, wollte Didriksen wissen.
»Er besitzt eine Fischerhütte auf der Westseite des Fjords. Vielleicht ist er ja dort.« Sie trat vor ihr Haus und deutete in eine Richtung. »Fahren Sie zurück Richtung Sortland. Nach etwa zehn Kilometern zweigt eine kleine Straße links ab. Die teilt sich dann und führt beiderseits des Fjords weiter. Halten Sie sich hier auf der linken Seite. Das letzte Stück über den Berg müssen Sie dann zu Fuß gehen.«
Didriksen dankte ihr. »Dann düsen wir los«, sagte er zu Elina und ging auf den Wagen zu.
Leif Oskar Bjerre hatte sich vorbereitet. Er trug die Angelschnüre mit den vielen Haken ins Haus. Er würde sie dieses Mal nicht brauchen.
Er würde mit dem Jungen und dem Mädchen rausfahren. Dort konnte alles passieren. Die See war unersättlich und schrie immer nach Menschen. Sie wollte die beiden in ihrer unendlichen Umarmung empfangen.
Er wandte sich zum Wasser. Es wurde dunkel, und Horizont und Himmel verschmolzen. Er hatte das Meer immer geliebt. Es war das Einzige gewesen, was er in seinem ganzen Leben geliebt hatte, es war das Einzige, was ihm etwas zurückgab. Und das Boot? Man würde es weit draußen treibend finden, leer.
Robert schaute aus dem Fenster. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee. Hinter ihm saßen zwei ältere Frauen und unterhielten sich. Andere Gäste befanden sich nicht im Café. Er rückte auf seinem Stuhl hin und her. Ihm gefiel die Sache nicht. Kari hatte darauf bestanden, allein zu fahren. Er begriff nicht, warum. Schließlich hatte es sich die ganze Zeit um ein gemeinsames Projekt gehandelt. Aber sie hatte folgendermaßen argumentiert: Wenn er mein Vater ist, dann wird es ihm leichter fallen, das zu sagen, wenn du nicht dabei bist. Das hatte sie gesagt. Robert hatte ihr widersprochen: Bjerre wollte doch, dass wir beide kommen! Aber Kari war unerbittlich. Diese letzte Reise wollte sie allein unternehmen. Robert vermutete, dass das mit ihrer Angst zu tun hatte. Sie hatte jetzt lange genug Angst gehabt.
Er war unruhig, ohne zu wissen, warum. Er war nicht für sie verantwortlich, sie war ein erwachsener Mensch. Wer war er denn schon? Du bist arbeitslos und malst Graffiti. Sie hatte ihn bereits bei ihrer ersten Begegnung durchschaut. Recht hatte sie. Und trotzdem: er wollte nicht, dass sie dort draußen in der Dunkelheit allein war.
Um diese Tageszeit war es im Ort vollkommen still. Die Geschäfte waren geschlossen, vermutlich waren alle zu Hause und kochten. Vor dem Fenster des Cafés fuhr ab und zu ein Auto vorbei. Er ging zum Tresen, goss sich noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich wieder ans Fenster.
In der Ferne sah er zwei Scheinwerferlichter näher kommen. Er hoffte, es wäre Kari, die es sich anders überlegt hatte und umgekehrt war, um ihn mitzunehmen. Er folgte dem Auto mit dem Blick. Es fuhr langsam vorbei. Ein Volvo, älteres Modell, der Fahrer … Robert traute seinen Augen kaum. Johannes? Warum war er hier? Mehrere Autostunden von Flakstad entfernt.
Er stand auf, riss die Tür des Cafés auf und rannte auf die Straße. Die Rücklichter verschwanden in der Ferne, ließen den Ort hinter sich. »Was zum …« sagte Robert laut. Er versuchte nachzudenken. Warum? Das konnte kein Zufall sein.
Robert spürte, wie sich vor Unruhe sein Magen zusammenzog. Etwas stimmte hier nicht, aber er verstand nicht was. Seine Gedanken gingen im Kreis: Johannes hatte doch gesagt, er hätte noch nie von Leif Oskar gehört, aber jetzt war er hier. Die beiden steckten unter einer Decke, sie hatten irgendwie mit der Sache zu tun. Es konnte gar nicht anders sein. Erst nichts sagen wollen, dann die Sache mit dem Messer und dem Zelt …
» Kari! « Robert flüsterte ihren Namen, dann schrie er: »Nein!«
Er begann zu rennen. Nach hundert Metern war er vollkommen außer Atem, er würde es nicht schaffen, er würde
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