Der Sonntagsmann
verzog das Gesicht. Elina konnte den Schmerz ahnen, den er empfand, wenn er daran dachte, wie sein Vater und sein ganzes Volk und vielleicht auch er selbst behandelt worden waren.
»Ja«, antwortete sie. »Aber es gelingt mir nicht, ihn in den Akten einzukreisen. Er hat keine Spur hinterlassen.«
»Wahrscheinlich, weil Ylva ihn für sich behalten hat«, meinte Rosén. »Ihre Affäre war geheim. Sonst würde es Vermutungen geben, wer der Vater des Kindes gewesen sein könnte. Ich glaube, du musst nach etwas suchen, wovon Ylva aus irgendeinem Grund nichts erzählen konnte, schon ehe sie schwanger wurde.«
»Oder nach jemandem, der verlangte, dass sie schwieg. Einen verheirateten Mann.«
»Oder einen Lehrer an der Schule. Eine Beziehung zwischen einem Lehrer und einer Schülerin ist heikel und verstößt vermutlich auch gegen die Regeln.«
»Es könnte etwas sein, das die Behörden hätte aufhorchen lassen«, meinte Elina. »Ylva hat Hasch geraucht. Ein Dealer vielleicht? Die Gefahr, das Kind zu verlieren, könnte ein Grund gewesen sein, auch nach der Geburt zu schweigen.«
»Das Kind verlieren«, sagte John Rosén. »Sie wollten mich auch in Pflege geben, weil mein Vater Alkoholiker war. Aber es ist meiner Mutter damals gelungen, das zu verhindern.«
Er verstummte. Elina wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Aber daran hast du vielleicht schon gedacht«, meinte Rosén nach einer Weile.
»Das Problem ist, dass ich auf keinen Verdächtigen stoße. Ich weiß zwar mehr über Ylva, aber das nützt mir bislang nichts. Ich komme ebensowenig vom Fleck wie die Ermittler damals.«
»Was haben die Nachforschungen in unserer Kartei ergeben? Also damals vor fünfundzwanzig Jahren?«
»Keiner der Männer, die damals überprüft wurden, waren im Zusammenhang mit einem Gewaltverbrechen oder einem anderen schwerwiegenden Delikt bei der Polizei registriert. Es gab wirklich nicht die geringste Spur.«
»Ich muss jetzt los«, sagte Rosén. »Ich hoffe, du entdeckst noch einen Hinweis in den Akten. Irgendwo muss es etwas geben.«
Sie gaben sich feierlich die Hand. Dann umarmte Elina ihn. Das hatte sie noch nie getan. Aber in diesem Augenblick schien es das Richtige zu sein.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und packte ihre Sachen zusammen, um nach Hause zu gehen. Als sie nach der Türklinke griff, klingelte das Telefon. Es war der Staatsanwalt, der den Fall mit der misshandelten Frau betreute. Er teilte mit, dass nun Anklage erhoben worden war. »Traurige Geschichte«, meinte er. »Da hätten wir schon viel früher durchgreifen müssen.«
Abends telefonierte Elina lange mit ihrem Vater. Sie erkundigte sich eingehend nach seiner Gesundheit. Er beteuerte, kerngesund zu sein. Seine Stimme klang fröhlich, er hatte mit den Herbstarbeiten im Garten begonnen. Elina freute sich mit ihm. Danach fiel es ihr schwer einzuschlafen, ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Erst nach einigen Stunden fiel sie in einen unruhigen Schlaf, wachte dann aber plötzlich auf. Das Fenster stand offen, und der Mond schien durch die Gardinen. Einen Augenblick lang meinte Elina ein Gesicht auf dem Muster der Gardine zu sehen. Das Gesicht einer Frau. Sie richtete sich im Bett auf. Was hatte sie gesagt? Die Frau, die misshandelt worden war? Sie hätten ihre Flitterwochen auf den Kanarischen Inseln verbracht. Da habe er sie zum ersten Mal geschlagen. Sie habe ihn erst viel später angezeigt, aber da sei es zu spät gewesen. »Wenn Sie ihn schon beim ersten Mal eingebuchtet hätten, wäre es nie so weit gekommen.«
Das waren ihre Worte gewesen.
Diese Aussage hatte etwas zu bedeuten. Elina sprang förmlich aus dem Bett. Sie war aber noch zu verschlafen und konnte nicht klar denken. Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser, vor allem um sich zu beschäftigen. Der Mann, der der Körperverletzung bezichtigt wurde, war zum Zeitpunkt des Mordes an Ylva erst zwölf gewesen, aber darum ging es auch gar nicht, sondern um etwas anderes. Sie versuchte sich zu konzentrieren, alles Unwichtige auszuschalten. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und legte sich rücklings aufs Bett. Sie versuchte, so langsam wie möglich zu atmen und sich so gut wie möglich zu entspannen. All ihre Kraft sollte sich auf ihr Gehirn konzentrieren. Die Zeit schien langsamer zu verstreichen.
»Ja«, flüsterte sie. »Ja.« Jetzt wusste sie, wie sie es anpacken musste.
27. KAPITEL
Kari erwachte zuerst. Sie zwängte sich aus dem Zelt und reckte sich. In der Ferne sah sie das Haus auf
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