Der Sonntagsmann
der Anhöhe. Alles war friedlich, niemand war zu sehen, und der Hund bellte auch nicht. Sie erinnerte sich, dass auch sie einen Hund besessen hatte. Was war wohl aus ihm geworden, als sie mit ihrer Mutter nach Schweden gezogen war? Hatten sie ihn mitgenommen? Kari versuchte sich zu erinnern, wie er geheißen hatte. Snipp?
Fast fünf Jahre lang hatte sie in dem Haus gewohnt. Dann war sie an einen anderen Ort in einem anderen Land gezogen. Wieso überhaupt? Das hatte ihr ihre Mutter nie erklärt. Die Mutter hatte nichts über die Zeit auf den Lofoten erzählen wollen, es war nur gelegentlich von Reidar, ihrem Adoptivvater die Rede gewesen, der jetzt unter einem Stein, der direkt aus den Felsen gehauen war, auf dem Friedhof ruhte.
Kari fühlte sich ihrer ersten Jahre beraubt. Sie war ein Gegenstand gewesen, etwas, das man erst hatte weggeben und dann einfach irgendwohin hatte mitnehmen können. Vielleicht wusste sie aus diesem Grund nicht, wer sie eigentlich war.
Sie ging zu dem Toilettenhäuschen und wusch sich, so gut es ging. Als sie zurückkam, stand Robert neben dem Zelt. Er lächelte sie an. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, erwiderte sie. »Ich habe nachgedacht«, meinte er.
»Ich dachte, du würdest noch schlafen.«
Er reckte sich. »Das schon, ich meinte, gerade eben. Ich habe darüber nachgedacht, wie wir am besten vorgehen sollten. Der Typ in dem Haus wirkte ja nicht sonderlich redselig. Wir müssen jemanden auftreiben, der ein bisschen mehr weiß.« Robert deutete auf den Kirchturm. »Vielleicht der Pfarrer. Das kam mir gerade in den Sinn.«
»Ich bin hungrig«, sagte Kari.
Robert fuhr auf die schmale Landstraße, die sich eingekeilt zwischen den Bergen dahinschlängelte. Nach einigen Minuten erreichten sie einen kleinen Ort, der etwas größer wirkte als Flakstad. Die Häuser duckten sich, gegen den Berg lehnte sich niemand auf! Ein Schild verkündete, dass sie sich in Ramberg befanden. Robert parkte vor einem Gebäude, das wie ein kleineres Einkaufszentrum aussah.
Eine Kassiererin im Lebensmittelladen erbot sich, ihnen die Telefonnummer des Pfarrers herauszusuchen. Kari rief ihn an. Nachmittags um eins hatte er Zeit für sie.
Ein Mann mit Jackett und gewelltem Haar gab Kari und Robert die Hand, als sie das Gemeindehaus betraten. Robert hielt sich im Hintergrund, als Kari erzählte, wer sie war und dass Reidar und Berit Solbakken sie adoptiert hatten. Der Pfarrer nickte. Er konnte sich gut an die beiden erinnern.
»Ich hatte gerade hier angefangen, als das passiert ist«, sagte er. »Und Ihre Mutter? Wie geht es ihr?«
»Sie ist schon vor einigen Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid. Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Wissen Sie, wer es war?«, fragte Kari.
Robert hob den Kopf. Dass sie so direkt sein würde, hatte er nicht erwartet.
»Der Sie gebracht hat?«
»Ja. Wer war es?«
»Das weiß niemand. Es hat mehrere Vermutungen gegeben. Aber niemand weiß etwas.«
Kari wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Schweigend saßen sie sich gegenüber. Sie wusste nicht, wonach sie noch fragen sollte. Zwar schwirrten ihr unzählige Fragen im Kopf herum, aber keine davon ließ sich in Worte fassen.
»Ich will Ihnen sagen, was ich damals geglaubt habe«, sagte der Pfarrer schließlich. »Ich glaube, dass es jemand war, der Reidar und Berit kannte oder zumindest von ihnen gehört hatte. Ich glaube, dass es kein Zufall war, dass man Sie ausgerechnet auf ihre Schwelle gelegt hat.«
»Weshalb?«, fragte Kari.
»Weil Reidar hier in der Gegend ein wichtiger Mann war. Ein bedeutender Mann. Er war an allen Angelegenheiten der Gemeinde beteiligt und saß in mehreren Ausschüssen. Ihre Mutter war außerdem Sozialarbeiterin. Es wirkte fast so, als hätte man Sie den Behörden übergeben und nicht Reidar und Berit. Die Person, die das tat, muss gewusst haben, wer die beiden waren. Gleichzeitig muss ich mir allerdings selbst widersprechen. Hier kennt jeder jeden. Nichts bleibt geheim … Keine Frau hätte hier neun Monate lang schwanger sein können, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte. Ihre richtige Mutter kann also nicht hier aus der Gegend gewesen sein.«
»Warum hatten sie keine eigenen Kinder?«, fragte Kari.
»Hat Ihre Mutter Berit nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein.«
Der Pfarrer seufzte.
»Ich vermute, dass es kein Geheimnis ist«, meinte er. »Sie konnten keine bekommen. Für Berit war das fürchterlich, sie wünschte sich sehnlichst ein Kind. Als Sie dann kamen, war
Weitere Kostenlose Bücher