Der Spezialist: Thriller
und fuhr den Block hinauf. Nachdem er auf die Amsterdam Avenue abgebogen war, hielt er an der Straßenecke. Er ließ den Motor laufen und stieg aus. An die warme Karosserie gelehnt, blickte er die Straße hinunter zu Geigers Haus. Auf den Bürgersteigen waren Passanten unterwegs. Die Sonne ging unter; Schatten legten sich wie schwarze Tapeten über die Hauswände.
Hall holte tief und langsam Luft. Es war angenehm, und allmählich fühlte er sich besser. Wieder blickte er zu Geigers Haus.
Es wurde Zeit, sich um Ray zu kümmern.
***
Der Gedanke kam Ray in Geigers Badezimmer auf der Toilette. Seit fast zwölf Stunden war sein Gehirn überhitzt – mit Medikamenten vollgepumpt, kämpfte er gegen seine Schmerzen an, und er litt unter Schlafentzug –, aber die drückende Last ließ nach. Allmählich klarte es an seinem inneren Himmel auf.
Schon immer hatte Ray gewusst, dass er in den Augen seiner Partner der Trottel des Trios war; aber das war ihm nur recht, denn wenn es hart auf hart kam, war das Wissen, wie andere einen sahen, genauso wertvoll wie Klugheit. Bei heruntergelassenen Hosen auf dem Toilettensitz kam Ray die Erkenntnis, dass Richie sich nicht gerade überschlagen würde, um ihn, Ray, hier herauszuholen. Und falls die Sache in die Binsen ging, würden Mitch und Hall sich in Länder absetzen, mit denen die USA kein Auslieferungsabkommen hatten, ohne an den guten alten Ray noch einen Gedanken zu verschwenden.
Ray war klar, dass sich soeben das »Du-bist-am-Arsch«-Monster zu ihm an den Tisch gesetzt hatte und schon Messer und Gabel in der Hand hielt. Aber Ray hatte nicht die Absicht, die nächste Mahlzeit dieses Monsters zu werden, ohne dass jemand ihm Gesellschaft leistete.
***
»Was soll der Mist, Ray?«
Hall hatte den Fußgängerverkehr auf der 134th Street beobachtet, als sein Handy klingelte. Er bemerkte sofort, dass die Aggression in Rays Stimme zurückgekehrt war. Die Wirkung des Lidocains musste nachgelassen haben.
»Bleib cool, Ray. Mitch ist an ihm dran. Wir haben gerade erst miteinander gesprochen.«
»Wirklich? Das freut mich aber für euch beide. Und was ist mit mir?«
»Ray, Mitch ist an ihm dran. Er wird ihn sich jeden Augenblick greifen, und dann bekommen wir den Code. Du musst die Ruhe bewahren.«
»Ich will hier raus«, rief Ray, »oder ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken! Ich gehe nicht alleine unter! Hast du verstanden?«
An seinen Wagen gelehnt, musterte Hall angelegentlich die Glut an der Spitze seiner Zigarette. »Habe ich dich auch nur einmal im Stich gelassen, Ray? Ein einziges Mal?« Er lauschte der Stille; dann schnippte er den Stummel weg. »Ich bin immer für dich da gewesen, Kumpel, und jetzt kommst du mir so? Mann, ich bin enttäuscht von dir.«
Ray schwieg kurz. »Na gut, okay. Ich hör dir zu.«
Hall hörte ein Piepen in der Leitung. »Das ist schon besser, Ray. Jetzt bleib dran, ich muss dich kurz wegschalten. Mitch meldet sich wieder.«
Hall stellte zu Mitchs Anruf um. »Was ist los?«
»Er ist auf der Achtundachtzigsten kurz vor der Central Park West. Er hat an einem Nebeneingang zu 281 CPW gehalten. Er muss einen Schlüssel haben, denn er geht rein.«
»Kannst du von da, wo du bist, Seitentür und Haupteingang sehen?«
»Klar.«
»Bleib an Ort und Stelle. Ich bin unterwegs.«
»Wo ist Ray?«
»Noch immer eingeschlossen«, sagte Hall. »Wir holen ihn später.«
Ehe er wieder in sein Gespräch mit Ray zurückschaltete, schaute Hall den Block entlang auf Geigers Vordertür. Er hatte abgewartet, bis sich auf dem Gehsteig vor Geigers Haus keine Passanten mehr befanden. Nun war es so weit.
Er holte Ray zurück.
»Ray, ich habe den Code. Mitch hat ihn aus Geiger rausbekommen. Er hat gerade eben angerufen.«
»Super! Wie hat Mitch ihn dazu gebracht?«
»Ich glaube, er hat ihm den Lauf einer Kanone ins Maul geschoben und ganz lieb ›Bitte, bitte‹ gesagt.«
»Erstaunlich, wie weit man mit guten Manieren kommt.«
Hall blickte auf sein Handy. »Okay, bist du so weit? Hier ist der Code: 5-6-8-3. Verstanden?«
»5-6-8-3«, wiederholte Ray.
»Genau. Auf den Zifferntasten ist das ›Love‹. L-O-V-E.«
»Peace und Love. Hab verstanden.«
»Okay, Ray. Wir sehen uns gleich.«
»Ja.«
Hall trennte die Verbindung und blickte auf das Display. »Adios, Ray«, sagte er.
Als es geschah, hörte es sich nicht so an, wie Hall es erwartet hatte. Es war weniger ein Explosionsdonner als vielmehr ein gedämpftes Fuuhmp! Hall beobachtete, wie das
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