Der Spezialist: Thriller
Aufforderung war zu einem Drittel Einladung und zu zwei Dritteln Befehl. Seine Stimme hatte den barschen Unterton von jemandem, der unter starken körperlichen Schmerzen leidet. So erschrocken Harry auch war – in gleichem Maße machte ihn seine Nacktheit verlegen.
»Kann ich mir was überziehen?«
»Setzen Sie sich, Harry. Sofort.«
Harry ließ sich auf seinen Lieblingssessel sinken. Der Lederbezug fühlte sich auf seinem nackten Rücken, seinen bloßen Beinen und dem nackten Hintern warm und klebrig an. So beiläufig, wie er konnte, legte er die Hände in den Schoß und bedeckte seine Genitalien.
»Ihr Partner ist ein sehr merkwürdiger Knabe«, sagte Hall. »Steckt voller Überraschungen.«
»Wem sagen Sie das.«
»Er hat einen großen Fehler begangen, Harry.«
»Ja. Das habe ich ihm schon gesagt.«
»Ist er der gleichen Meinung?«
»Geiger und ich führen solche Gespräche nicht.« Harry verlagerte seine Sitzhaltung. Seine feuchte nackte Haut löste sich mit einem Schmatzen vom Leder. »Könnte ich wenigstens meine Jacke haben?«
Harry zeigte auf sein Sportsakko, das auf der Couch lag, wo er es hingeworfen hatte, als er in die Wohnung gekommen war. Hall nahm es und warf es ihm zu, und Harry breitete es über seinem Schoß aus.
»Ich will den Jungen haben, Harry. Sofort.«
»Sie haben Ihr Geld. Ich vermute, mehr ist für Sie nicht drin.«
Die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, beugte Hall sich vor. »Das Geld ist mir egal, Harry.« Er holte tief Luft. Ein angespannter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Seine Hand wanderte zu seinem Brustbein; die Fingerspitzen erkundeten behutsam die geschwollene Stelle. »Mein lieber Mann, der hat mich ganz schön erwischt.« Seine Hand bewegte sich nach oben; vorsichtig betastete er seinen Hinterkopf. »Was haben Sie zu trinken da?«
»Tut mir leid, ich trinke nicht mehr. Aber jetzt hätte ich auch gern einen, das muss ich gestehen.«
Hall stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den East River. Im schwachen Licht sah Harry, dass Hall auf dem Rücken und am Kragen seines Hemdes einen langen roten Fleck hatte; auf seinem Hinterkopf war ein kleines weißes Pflaster. Als Ray Charles Georgia zu Ende sang, trieben die Reflexe der Brückenbeleuchtung wie Kleckse aus goldenem Öl auf dem Wasser.
»Tolle Stimme«, sagte Hall.
»Absolut.«
»Wo sind die beiden, Harry?«
»Wer?«
»Tun Sie nicht so dämlich. Geiger und der Junge.«
»Weiß ich nicht.«
»Wo wohnt Geiger?«
»Weiß ich auch nicht.
»Wie lange sind Sie schon Partner?«
»Elf Jahre.«
»Und da wissen Sie nicht mal, wo er wohnt?«
»Bin nie dort gewesen. Wie Sie schon sagten – er ist ein sehr merkwürdiger Knabe.«
Harry tat sein Bestes, still dazusitzen und die Stimme ruhig zu halten, weil er immer mehr Angst bekam. Hall hatte etwas an sich – nein, alles hatte etwas an sich, bei dem es Harry immer heißer wurde.
»Harry, ich habe Sie in Ruhe duschen lassen, weil Sie entspannt und zu klaren Gedanken fähig sein sollen.« Hall wandte sich wieder dem Raum zu. »Wie sehen Sie mich in diesem Augenblick, Harry?«
»Sie haben starke Schmerzen.«
»Was noch?«
»Sie verlieren die Geduld.«
»Volltreffer. Also …« Hall griff in die Hosentasche und zog Harrys Handy heraus. »Ich habe mir Ihr Mobiltelefon angesehen. Es gibt keine Listen abgehender oder ankommender Gespräche.«
»Ich habe es so eingestellt.«
»Meinetwegen. Aber deshalb müssen Sie Geiger jetzt anrufen und ihm sagen, dass ich ihm die Hölle heißmachen werde, wenn er mir den Jungen nicht auf der Stelle zurückbringt. Und was Sie angeht … vielleicht bringe ich Sie zu Dalton.«
Zuerst stieg Panik in Harry auf, doch dann musste er sich auf die Zunge beißen, damit er nicht auflachte. Er bezweifelte keineswegs, dass es Hall ernst war, aber die Begleitumstände des kleinen Dramas – seine alberne Nacktheit, Ray Charles’ traurige Stimme, der Sommermorgen über dem Fluss – verschworen sich und kleideten den Schrecken des Augenblicks in ein skurriles Gewand. Das alles wirkte beinahe wie eine Parodie, als wollte das Schicksal seine vielleicht letzten Minuten auf Erden zu einer miesen Komödie machen.
»Was ist?«, riss Hall ihn aus seinen Gedanken. »Kriegen Sie das hin?«
Harry holte tief Luft. »Geiger würde nicht abnehmen«, erwiderte er. »Er hat mir gesagt, ich soll ihn nicht anrufen – wenn es sein müsste, würde er mich anrufen. Selbst wenn ich ihm eine Nachricht hinterlasse und ihm sage, was
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