Der Spezialist: Thriller
wir über deine Eltern.«
Geiger ging über den Flur ins Bad, in dem es eine kleine Dusche gab, eine Toilette und ein Standwaschbecken mit einem kopfgroßen ovalen Spiegel darüber. Er kniete sich an einem chromglänzenden Servierwagen auf einen Parkettboden aus Esche und Teak in einem Rautenmuster und griff in das unterste Fach.
Ihm kam der Gedanke, dass seine Stimme sich wie die eines Eindringlings angehört hatte. Bis auf die Telefonate mit Harry und ein paar knappe, an den Kater gerichtete Worte hatte Geiger in seinen vier Wänden niemals einen Grund zu sprechen. Der Druck in seinem Kopf verstärkte das Gefühl der Seltsamkeit und erzeugte ein blechernes Geräusch in den Ohren, das seinen Worten zu folgen schien wie das Kielwasser einem Schiff.
Er fand das Wundbenzin, nahm Papiertücher aus dem Spender und kehrte in den Flur zurück. »Wir finden schon eine Lösung. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir …«
Er starrte den Jungen an. Ezra lag auf der Seite und schlief tief und fest, wie der gleichmäßige Atem erkennen ließ.
Geiger ging zur Hintertür, schloss sie auf und trat hinaus auf die Veranda. Die durch Bewegungsmelder gesteuerte Lampe strahlte auf. Mitten auf dem Rasen erstarrte ein einsames schlafloses Eichhörnchen und wappnete sich für die Katastrophe.
ZWEITER TEIL
10
Die heißen Nadeln der Dusche spießten Harrys Beklommenheit wie eine Eiterbeule auf und führten ihn dorthin, wo seine Gedanken wieder zu Atem kamen und wo er einen Blick auf die neue Zukunft erhielt.
Als er durch die schmalen, dunstigen Straßen von Chinatown und über die Brooklyn Bridge nach Hause gegangen war, hatte er ein Worst-Case-Szenarium nach dem anderen ausgearbeitet. Er besaß siebzigtausend Dollar in einem Bankschließfach. Wenn es hart auf hart kam, wäre es kein Problem, die Wohnung loszuwerden. Den Verkauf müsste er unter der Hand abwickeln, gegen bar und höchstwahrscheinlich über Carmine, sodass er mit einer Einbuße rechnen musste, aber er kannte den Preis für eine Dreizimmer-Altbauwohnung in Brooklyn Heights mit Sicht auf die City ganz genau, sodass weitere drei- bis vierhunderttausend Dollar in seine Tasche flossen.
Das war Szenarium Nummer eins unter der Prämisse, dass er nie wieder arbeiten würde. Er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Job zu machen.
Und wer würde ihn mit einer mehr als zehnjährigen Lücke im Lebenslauf ohne jede Empfehlung einstellen? Und was konnte er überhaupt? Im Hinterzimmer eines Computerladens Mainboards reparieren? Cyber-Software online verticken? Taxifahren? Auf keinen Fall, aber trotzdem konnte er von seinem Geld mindestens sieben oder acht Jahre leben, ohne einen Finger zu rühren. Soweit es Ämter und Behörden anging, hatte Harry Boddicker zu existieren aufgehört. Seine Strom- undTelefonrechnungen gingen an Thomas Jones. Steuern hatte er seit zehn Jahren nicht mehr bezahlt. Er konnte mehr oder weniger von der Bildfläche verschwinden.
Dann gab es noch Szenarium Nummer zwei, bei dem seine Schwester mit in die Gleichung kam. Wenn Lily nicht endlich ihre Reise im Bizarro-Bus beendete und wieder zu sich selbst fand – oder der fiese Knoten in seinem Schritt ihn nicht vorher umbrachte –, hätte Lily ihn in vier Jahren finanziell trockengelegt, ohne überhaupt zu begreifen, dass es ihn gab.
Als Harry zu Hause angekommen war, hatte ihm die Vorstellung, mit jemandem sprechen zu müssen, Übelkeit verursacht. Er weckte die Krankenpflegerin, drückte ihr fünfzig Dollar extra in die Hand und scheuchte sie nach Hause, nachdem er erklärt hatte, er würde sie morgen anrufen, wenn er so weit wäre, Lily zurückzuschicken. Als er einen Blick ins Gästezimmer am Ende des Flurs warf, lag Lily auf der Tagesdecke und schlief in Fötushaltung. So hatte sie schon immer geschlafen.
Nun drehte er die Dusche ab und trat heraus. Die CD mit den größten Hits von Ray Charles war zur Hälfte durch, und Charles’ Stimme munterte Harry ein wenig auf. Er kämpfte gegen den Impuls an, in seinem Schritt herumzutasten, während er sich mit einem übergroßen Frotteetuch von Bed Bath and Beyond abrubbelte. Er lächelte matt – vierzig Dollar würde er nie wieder für ein Handtuch ausgeben – und ging ins Wohnzimmer.
Als er nach Hause gekommen war, hatte er kein Licht eingeschaltet, und der Sonnenaufgang war kaum mehr als eine Andeutung des kommenden Tages; deshalb sah er die Gestalt auf der Couch nicht, bis er fast vor ihr stand.
»Setzen Sie sich, Harry.«
Halls
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