Der Spezialist: Thriller
aus Kastanie mit, manchmal ein paar Zwanzigzentimeterfliesen aus Hemlocktanne. Die Mitarbeiter der Baustoffmärkte und der Holzsammelstellen in den Vorstädten gewöhnten sich bald an Geigers vierzehntägliche Besuche, bei denen er nach den seltenen Holzsorten kramte, die er brauchte.
Doch was für eine Holzart es auch sein mochte, welche Gestalt sie besaß und in welchem Zustand sie war, stets folgte der gleiche Prozess. Geiger sägte sie zurecht, schliff sie ab und stutzte sie – ebenso nach Instinkt wie nach Maß –, um jenes Stück hervorzubringen, das er vor Augen hatte: Durch drei langeSchleifvorgänge mit zunehmend feinerem Papier legte er die ursprüngliche, natürliche Oberfläche frei. Nachdem er sämtliche Flächen mit einer hausgemachten Mischung aus Bienenwachs und Tungöl behandelt hatte, setzte er das Teil ins Ganze ein. Eines nach dem anderen wurden die Holzstücke zu den Einzelteilen eines sechs Quadratmeter großen Puzzles.
Geiger hatte am Rand begonnen und sich nach innen gearbeitet. Er benutzte mehr als siebenhundert Teile. Einige waren anderthalb Meter lang und zehn Zentimeter breit, andere kaum größer als ein Flaschenverschluss. Die verwendeten Holzarten waren Teak, Zebrano, Eiche, Mahagoni, Esche, Hemlock, Ulme, Kastanie und Kiefernkernholz. Sieben Monate hatte Geiger gebraucht, um das fantastische Mosaik zu vollenden, ein Kunstwerk, das jedem Besucher den Atem geraubt hätte. Tatsächlich aber war der Junge der erste Gast, der einen Fuß in Geigers Haus setzte.
Geiger hielt ein paar Meter von der Haustür entfernt. Er blickte in den Innenspiegel und betrachtete sein Gesicht. Er spürte, wie seine Stirn sich spannte; vom fernen Horizont seines Geistes zog ein Sturm heran. Er drehte sich zu dem Jungen um, der noch immer ausgestreckt auf der Rückbank lag. »Wir gehen jetzt rein. Sieben Meter auf dem Gehsteig, dann drei Stufen, und wir sind im Haus.«
Er stieg aus dem Wagen, öffnete die Tür, beugte sich ins Fahrzeug, nahm den Jungen bei einer der gefesselten Hände und zog ihn in eine sitzende Haltung hoch.
»Bist du so weit?«
Der Junge nickte müde. Er war erschöpft, schaffte es kaum, das Kinn oben zu halten. Das Isolierband über seinem Mund zeigte eine waagerechte Furche, wo er stundenlang immer wieder reflexhaft versucht hatte, Luft einzusaugen.
Geiger nahm den Violinkasten und blickte in beide Richtungen an den Hausfronten entlang. Niemand war zu sehen.
»Wir werden jetzt schnell gehen, okay? Pass auf deinen Kopf auf.«
Er hielt die Hand des Jungen fest, während er vom Sitz zur Tür glitt. Als Ezra die Beine herausgeschwungen hatte, zog Geiger ihn hoch. Augenblicklich hob der Junge sein verklebtes Gesicht in den Regen, als suchte er nach Reinigung.
»Gehen wir«, sagte Geiger.
Er unterstützte den Jungen mit dem linken Arm, als er ihn zum Haus führte. »Drei Stufen«, sagte er. Ohne Zwischenfall gelangten sie zur Haustür, die – genau wie auf der Ludlow Street – aus dickem Stahlblech bestand und kein Schloss und keinen Griff hatte. In der Wand daneben befand sich ein Ziffernblock. Geiger gab den Code ein. Ein leises Zirpen war zu hören, gefolgt vom lauteren Klacken sich lösender Klammern. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Geiger drückte sie auf und führte den Jungen hinein. Hinter ihnen schloss sich die Tür; die Schlösser verriegelten sich automatisch.
Geiger wusste, dass er mit seinen Aktionen eine Ereignislawine in Gang gesetzt hatte und dass sein Platz im Universum neu definiert würde, doch im Augenblick bot die Stille ihm Trost und ein Zuhause, das ihn willkommen hieß. Er stellte den Violinkasten ab, zog sein Schweizer Armeemesser aus der Tasche und zerschnitt die Fesseln an den Handgelenken des Jungen.
»Ich ziehe dir jetzt das Isolierband ab«, sagte er.
Geiger versuchte mit Daumen und Zeigefinger unter dem linken Ohrläppchen des Jungen eine Ecke des Bandes zu fassen. Feuchtigkeit und Schweiß hatten es getränkt und den Klebstoff quellen lassen, und das Band wollte sich nicht lösen lassen.
»Das wird jetzt wehtun.«
Der Junge gab ein Grunzen von sich, das ihm den letzten Rest seiner Kraft zu entziehen schien. Dabei schwankte er wie jemand, der sich zum ersten Mal betrunken hat. Geiger packte ihn und führte ihn ein paar Schritte weit zur Couch.
»Setz dich hierhin«, sagte er und senkte den Jungen auf den weichen Bezug aus kastanienbraunem Leder. »Ich hole ein bisschen Benzin, damit das Band leichter runtergeht. Wenn du es los bist, reden
Weitere Kostenlose Bücher