Der Spezialist: Thriller
Stunden waren eine Abfolge brutaler Dreierwetten gewesen, bei denen er jedes Mal aufs falsche Pferd gesetzt hatte: Matheson konnte sie abschütteln; Geiger beschloss, zum moralischen Relativismus überzutreten, und ein Computerfreak entpuppte sich als Rambo.
Hall nahm einen letzten Zug von seiner Camel, drückte sie auf dem Couchtisch aus und ging zu Ray.
»Gib mir dein Handy.«
Ray spuckte einen großen Blutklumpen aus und zog sein Handy aus der Tasche. Hall wählte.
»Halt dich bereit, Mitch. Harry Boddicker kommt mit seiner Schwester raus.«
»Seiner Schwester?«, fragte Mitch. »Was ist bei euch los?«
»Boddicker und Ray haben sich geprügelt, aber davon später mehr. Ich muss Rays Gesicht nähen.«
»So schlimm? Mann, Richie, wir verwandeln uns in die beschissenen drei blinden Mäuse.«
»Bleib dicht an ihm dran, Mitch – aber nicht zu dicht«, sagte Hall. »Und sei bloß nicht zu clever. Dir ist doch klar, dass er unsere größte Chance ist, Geiger noch zu finden. Was denkst du?«
»Ich denke, dass jemand, der dauernd Fehlentscheidungen trifft, die Klappe nicht so weit aufreißen und so tun sollte, als wüsste er, was er macht.«
Hall wollte dem Kerl schon seit Jahren eine runterhauen, aber er seufzte nur und legte auf. Seit der Schlamassel begonnen hatte, rechnete er damit, dass sie alle drei sich irgendwann gegenseitig an die Kehle fahren würden, aber er konnte nicht zulassen, dass es jetzt schon geschah.
Er musste noch einen Anruf erledigen. Um dieses Telefonat zu führen, setzte er sich in Harrys Sessel, atmete tief ein, entließ die Luft langsam und wohl bemessen und wählte. Beim ersten Klingeln nahm jemand ab.
»Ja?«
»Hier ist Hall. Wir haben ein Problem, Sir.«
»Problem? Dieses Wort mag ich gar nicht. Worin besteht denn unser Problem?«
»Wir haben den Jungen verloren, bevor wir etwas aus ihm herausbekommen konnten. Geiger hat ihn.«
» Hat ihn?«
»Hat ihn mitgenommen , Sir.«
»Dann finden Sie Geiger.«
»Jawohl, Sir. Das ist unser Plan. Aber wir wissen nicht, wo Geiger ist … noch nicht.«
»Hall?«
»Jawohl, Sir.«
»Ich frage mich allmählich, ob ich mir Sorgen machen sollte. Gestern sagten Sie, Sie hätten Matheson gefunden, und heute höre ich so etwas.«
»Ich verstehe, Sir, aber es besteht keine Notwendigkeit …«
»Finden Sie Geiger.«
»Jawohl, Sir.«
»Und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich mag es nicht, im Nachhinein von Problemen zu erfahren. Wenn Sie weitere Komplikationen absehen können, möchte ich davon wissen, bevor sie eintreten.«
»Jawohl, Sir.«
Das Gespräch war zu Ende. Hall konnte förmlich hören, wie sich im Himmelszelt Risse bildeten. Wenn er den Auftrag nicht wieder in den Griff bekam, stürzte es mit Sicherheit über ihm zusammen.
Ray stand mit einem lauten Ächzen auf und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, um nicht wieder zu stürzen.
»Feischdreckschau …«
»Halt die Fresse, Ray!«
11
Der Junge hatte nicht lange geschlafen. Im Schlaf hatte er ständig gezuckt und gedämpfte Laute von sich gegeben. Schließlich war er von einem Traumdämon zurück ins Bewusstsein gejagt worden. Geiger setzte sich mit dem Wundbenzin und einem Lappen neben ihn und stellte ein Glas Wasser auf den Boden.
»Ich nehme dir jetzt das Isolierband ab. Sag mir, wenn es zu sehr wehtut.«
Ezra nickte. Geiger hob vorsichtig eine Ecke des Klebebandes über seinen Augen an. Dann zog er vorsichtig daran. Immer, wenn er einen halben Zentimeter abgelöst hatte, tupfte er Wundbenzin auf. Der Junge zuckte ein paar Mal zusammen, blieb aber völlig still. Als Geiger am einen Auge – dem linken – vorbei war, ließ sich der Rest des Bandes leichter abziehen. Ezras Augen waren von einem wunderschönen leuchtenden Grün, der Farbe von Seegras. Doch nun lagen Angst und Unsicherheit in diesen Augen und ließen keinen Raum für Vertrauen.
Geiger machte sich an die Arbeit und zupfte an dem Streifen über Ezras Mund, wobei der Junge ihn wachsam beobachtete. Vorsichtig zog Geiger das Band ab. Auf Ezras Wangen und Schläfen zeigten sich zwei waagerechte knallrote Streifen, wo der Klebstoff die Haut gereizt hatte. Er fuhr sich mehrmals mit der Zunge über die Lippen.
»Durst«, krächzte er.
Geiger reichte ihm das Glas, und der Junge leerte es in einem Zug. Sie musterten einander wie Fremde, die zu Beginn einer langen Reise im selben Abteil Platz nehmen.
»Werden Sie mir was tun?«, fragte Ezra.
Seine Stimme war mittelhoch, und Geiger hörte
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