Der Spezialist: Thriller
der Mann kam ihm immer seltsamer vor. Wie konnte er von Beruf Folterer sein und gleichzeitig sein Beschützer?
Geiger stand schweigend vor ihm.
»Was stimmt nicht mit Ihnen?«, fragte Ezra.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie bekommen aber nicht noch einen Anfall, oder?«
»Das war kein Anfall.«
»Was dann?«
»Eine Migräne. Sehr starke Kopfschmerzen.«
»Na, für mich sah das nicht wie Kopfschmerzen aus. Vielleicht sollten Sie mal zum Arzt gehen.«
»Ich gehe regelmäßig zu einem Psychiater.«
»Echt? Weiß der, was Sie … was Sie arbeiten?«
Ezra versuchte sich Geiger vorzustellen, wie er mit einem Psychiater über seinen Job sprach, aber sein Kopf blieb dabei völlig leer.
Als Geiger nicht antwortete, fuhr Ezra fort: »Ich bin auch zu einem Psychiater gegangen. Damals, als Dad ausgezogen war. Mom hat mich zu ihm gebracht.« Seine knochigen Schultern zuckten hoch. »Das war total öde. Der Mann fragte mich immer wieder, was ich empfinde – Sie wissen schon, wegen der Scheidung –, und ich hab kaum was gesagt. Deshalb redete meistens Mom – dass sie nach Kalifornien gehen wollte, ich aber dadurch meinen Violinlehrer verloren hätte, und so was. Ständig fragte sie ihn: ›War das selbstsüchtig?‹, und der Psychiater erwiderte: ›Glauben Sie selbst, dass es selbstsüchtig war?‹ Daraufhin fragte sie: ›Wie sehen Sie das denn?‹ Sie stellten sich die ganze Zeit gegenseitig Fragen, und ich saß nur dabei.«
»Ich gehe eine Zigarette rauchen«, sagte Geiger. Er ging zur Hintertür, gab den Code ein und trat hinaus auf die Veranda. Der Rasen schimmerte im Sonnenschein, als wäre er aus grünemGlas, und Geiger musste die Augen zusammenkneifen, damit sie das grelle Licht ertrugen. Seine Knie schienen aus Gummi zu bestehen, doch der Stimme des Jungen war keine Spur aus Echos gefolgt, und keine visuellen Gespenster spukten bei jeder Bewegung.
Geiger setzte sich an den Baum und zündete die Zigarette an. Er dachte an die Mutter des Jungen und versuchte, sich die Zukunft auszumalen, damit er einen Weg fand, in Kontakt mit ihr zu kommen. Zu vieles lag außerhalb seiner Kontrolle. Hall war in der Nähe, und ganz wie Harry befürchtet hatte, hatte er die Technik auf seiner Seite. Züge, Flugzeuge und Busse erschienen zu riskant – die Wahrscheinlichkeit, dass sie überwacht wurden, war ziemlich hoch –, und in seinem augenblicklichen Zustand wäre es unklug gewesen, sich hinter das Lenkrad eines Autos zu setzen. Geiger war es gewöhnt, Herr über Geist und Körper zu sein, doch im Augenblick war er mehr der Sklave von beiden. Zu glauben, es könne keinen weiteren Überfall aus seinem Inneren geben, wäre töricht gewesen; er würde unverantwortlich handeln, wenn er versuchte, Ezra zu seiner Mutter zu bringen. Seine Mutter musste ihn abholen. In der Zwischenzeit mussten Ezra und er von hier verschwinden. Er, Geiger, benötigte Hilfe.
Ezra kam zur Tür und beobachtete Geiger, wie er reglos unter dem Baum saß. Er erinnerte Ezra an den kleinen Buddha, den seine Mutter in den Garten gesetzt hatte, und dieser Gedanke löste Sehnsucht aus. Ezra sah seine Mutter am Klavier sitzen, wie sie sich auf die Unterlippe biss, während sie tapfer versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie und Ezra spielten gemeinsam ein Stück für Klavier und Violine, wobei sie sich bemühte, nicht laut über ihre Patzer zu fluchen, während Ezra versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Nie hatte er sich ihr näher gefühlt als in solchen Augenblicken, wenn sie gemeinsam einen musikalischen Teppich woben.
»Darf ich rauskommen?«, fragte Ezra.
»Ja.«
Ezra stieg die beiden Stufen hinunter, blieb gleich außerhalb des Vordachs der Veranda stehen und hob das Gesicht zum Himmel.
»Was ist eigentlich aus dem Mann geworden, über den ich gelesen habe, diesem Victor? Haben Sie … haben Sie ihn zerschnitten?«
»Nein. Aber er glaubte, ich würde es tun. Deshalb hat er mir die Wahrheit gesagt. Er hielt das Mädchen gefesselt in einem Keller gefangen.«
»Dann haben Sie dem Mädchen das Leben gerettet?«
»Ich habe die Wahrheit herausgefunden. Was danach kommt, geht mich nichts an. Das gehört nicht zu meinem Job.«
»Bringen Sie die Leute immer dazu, die Wahrheit zu sagen?«
»Ja. Man kann jeden dazu bringen, fast alles zu tun.«
Die beiläufige Art, in der Geiger dies sagte, unterstrich die brutale Wahrheit der Aussage. Ezra fragte sich, wo und wie Geiger das Foltern gelernt hatte. Musste man Bücher durcharbeiten? Lehrvideos
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