Der Spezialist: Thriller
Tatsächlich aber nahmen Corleys Augen gar nichts wahr; sein Blick ging nach innen auf die unzähligen Teile des Puzzles, das Geigers Psyche war.
»Doc?«
Corley war erschüttert, als er hörte, auf welche Weise Geiger sich sein Geld verdiente. Außerdem schmerzte es ihn, wie blind er gewesen war. Folter. So hatte sich Geigers unbekannte Vergangenheit in all den Jahren geäußert? Ein kleines Tier mitspitzen Zähnen begann in Corleys Innerem zu nagen. Hätte er es erkennen müssen? Hätte er zumindest etwas spüren müssen?
»Doc?«
Corley hob den Blick. »Ja?«
»Es tut mir leid, dass das vor Ihrer Tür zu Ende ging. Wirklich.«
Corley wischte die Entschuldigung mit einer Handbewegung weg; dann aber schaute er Harry genauer an. »Schieben wir für den Augenblick mal beiseite, was Sie seit über zehn Jahren tun. Ist Ihnen klar, dass die Sache mit dem Jungen Kidnapping ist? Ein Kapitalverbrechen?«
»Sicher, aber wir haben ihn ja nicht gekidnappt. Wir sind gewissermaßen die Entkidnapper.«
Harry nahm einen Schluck Gingerale und rülpste in die Faust. Er hielt Lily ein Stück Sauerteig-Brezel vor den Mund, aber sie beachtete es nicht.
»Iss etwas«, sagte er.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Lily. Ihre Blicke huschten hin und her.
»An was erinnern?«
»Es gibt so viele Wörter, mit so vielen unterschiedlichen Bedeutungen, und alle müssen sie an der richtigen Stelle stehen. Wo ist Harry?«, fragte sie.
Harry warf Corley einen raschen Blick zu. »Mensch, sie hat meinen Namen gesagt!« Er schaute Lily wieder an. »Direkt hier, Schwesterchen. He, ich bin’s, Harry.«
Corley stand auf, kam herüber und kauerte sich vor Lily hin. Er beobachtete die Bewegungen ihrer Augen und registrierte den starren Blick, der immer wieder von plötzlichem Hin- und Herzucken unterbrochen wurde.
»Sie sagen, manchmal gibt sie einen Liedtext zur Antwort?«, fragte Corley.
»Ja. Und manchmal kommt es mir so vor, als hätte es eine Beziehung zu irgendetwas.«
Corley beugte sich ganz nah an Lily heran. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt.
»Lily?«, sprach er sie an. Unvermittelt klatschte er in die Hände. Harry zuckte erschrocken zusammen, doch Lily reagierte nicht. »Lily!«
»Ich möchte gehen«, sagte sie.
»Ich möchte auch gehen, Lily«, entgegnete Corley. »Wohin sollen wir?«
Lily antwortete im Sprechgesang: »Way down below the ocean …«
»Sehen Sie?«, warf Harry ein. »Das könnte alles heißen – oder auch nichts. Sie hat das Lied geliebt, und Sie haben nur gefragt: ›Wohin sollen wir gehen?‹ Das kann einen in den Wahnsinn treiben.«
Corley kehrte zu seinem Sessel zurück. »In ihr geht etwas vor«, sagte er. »Ob es reaktiv, zugänglich oder zufällig ist, weiß ich nicht. Aber es findet ein Prozess statt, an dessen Ende sie zu einer Art Entscheidung gelangt – ein besserer Begriff fällt mir nicht ein –, und dann singt sie. Manchmal glaube ich, es braucht übermenschliche Kraft, die Mauern zu errichten und aufrechtzuerhalten, die den Schrecken gefangen und die äußere Welt fernhalten. Bekommt sie Medikamente?«
»Ich glaube schon, aber ich weiß nicht, welche.«
»Wir müssen sie gut im Auge behalten. Wie war sie früher, Harry? Vorher, meine ich.«
»Ein bisschen verträumt, aber sehr klug. Und lustig, auf eine alberne Art.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Und so viele Jahre lang habe ich für sie nicht mehr existiert.«
»Wissen Sie, was mal jemand über die Schuld gesagt hat?«
»Was?«
»Wenn ein Mann sich einmal nicht schuldig fühlt, gibt er sich wahrscheinlich sofort die Schuld daran.«
Harry ließ die Schultern sinken. »Ich weiß Ihre Worte zu schätzen, Doc, aber ich brauche keinen Seelenklempner. Ich weiß, wer ich bin.«
Sie musterten einander. Harrys Bericht über die Geschehnisse des Tages stand einmal mehr zwischen ihnen, unsichtbar, aber magnetisch.
»Er ist schon lange fort, Doc«, sagte Harry.
Corley blickte auf seine Uhr. Fast drei Stunden. Katastrophenszenarien erschienen vor seinem inneren Auge.
»Aber ich bin sicher, dass mit ihm alles in Ordnung ist«, fuhr Harry fort, doch seine mangelnde Zuversicht war deutlich zu hören. Er versuchte zu grinsen. »Ich meine, er ist schließlich ein großer Junge.«
Corley sehnte sich nach einer Zigarette. Er fragte sich, ob er irgendwo noch einen Vorrat an normal starken Marlboros hatte.
»Nein, Harry«, erwiderte er. »Geiger ist ein sehr kleiner Junge.«
***
Mit einer kleinen
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