Der Spiegel der Königin
umzustimmen.
An einem kalten Morgen beorderte sie Descartes zu einer Audienz. Inzwischen war der erste Schnee gefallen und hatte die Stadt mit eisigem Samt bedeckt. Als Elin an die Tür der Botschaft klopfte, war es kurz nach vier Uhr in der Frühe. Descartes tat ihr Leid, offenbar war er ein so zeitiges Aufstehen nicht gewöhnt. Er sah steinalt aus, hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte auf der Wange und nuschelte eine unverständliche Begrüßung. Henri, der ebenfalls aufgestanden war, nutzte die Zeit, in der der Philosoph seine Bücher zusammensuchte, um mit Elin einige Worte zu wechseln. In Augenblicken wie diesen fehlten Elin die Sommernächte besonders – die lächerlich wenigen gestohlenen Momente, die sie für sich hatten, vergrößerten ihre Sehnsucht und ließen sie beide umso hungriger nach Nähe zurück.
Pünktlich um fünf Uhr morgens begann der Unterricht in der zugigen Bibliothek des Schlosses. Zu ihrer maßl o sen Enttäuschung durfte Elin nicht daran teilnehmen.
»Ärgern Sie sich nicht, Fräulein Elin«, tröstete Herr Freinsheim sie. »Sie werden noch genug Gelegenheit haben, mit Monsieur Descartes zu sprechen.«
Wie Recht der Bibliothekar mit dieser Vermutung ha t te, durfte Elin schon in den nächsten Wochen erfahren. Denn obwohl der Philosoph von der Königin und ihrem Wissen begeistert war und der nächsten Unterrichtsstu n de entgegenfieberte, schien Kristina ihn mit einem Mal vergessen zu haben und wies ihn an, die folgenden W o chen erst einmal dazu zu nutzen, sich in Stockholm ei n zuleben. Währenddessen wurde das Kesseltreiben der Gelehrten bei Hofe immer schlimmer. Gegen Descartes wurden Gerüchte geschürt. Er wurde angefeindet und beschuldigt, atheistische Lehren zu verbreiten. Unterl a gen verschwanden, gefälschte Briefe waren im Umlauf. Gekränkt zog sich Descartes schließlich in die Botschaft zurück.
»Diese Königin hat alles gesehen, alles gelesen – ihr Geist ist wirklich außerordentlich und sie weiß alles!«, bemerkte er, als er mit Freinsheim, Henri und Elin am Tisch saß. »Aber sie geht mit Menschen so um wie mit Büchern, die sie sich beschafft und in ihrer Bibliothek abstellt. Offenbar sammelt sie Wissenschaftler wie and e re Leute Kuriositäten.«
Elin schwieg, aber insgeheim gab sie dem Philosophen Recht. In letzter Zeit war das Verhältnis zwischen Krist i na und ihr noch angespannter geworden. Es war beinahe so, als hätte ihre Liebe zu Henri die feste Mauer der Freundschaft zu Kristina an einigen Stellen beschädigt. Steinchen für Steinchen löste sich, Lücken wurden sich t bar, durch die Elin jetzt Details wahrnahm, die sie früher nicht gestört hatten. Umso schöner w aren die Abende im obersten Stock der Botschaft, wo Descartes Henri und ihr mit dem Blick auf einen samtfarbenen und diamantb e stickten Himmel den Lauf der Gestirne erklärte, über Astronomie und Arithmetik sprach und neue Welten der Vernunft und des Verstandes an den Himmel malte, die alle nach mathematischen Prinzipien erfasst werden konnten. Verstohlen betracht e te Elin Henris Gesicht, wenn er in den Himmel schaute – und er gefiel ihr besser denn je. Doch auch mit Henri ging in diesen Wochen eine Veränderung vor. Er war schweigsamer geworden und grübelte viel vor sich hin. Seinen Kummer wollte er Elin nicht verraten, und so erklärte sie sich sein Verha l ten mit den langen dunklen Nächten und der Einsamkeit in der verwaisten Botschaft.
Nach und nach verlor sie ihre Scheu vor Descartes und kam zu dem Schluss, dass er ein liebenswürdiger und väterlicher alter Mann war – ein wenig verhärtet durch sein Schicksal, aber ein unerschütterlicher Mensche n freund. Nur wenn er von der menschlichen Maschine sprach, erinnerte sich Elin an Emilia und zweifelte daran, dass der Mensch wie ein Uhrwerk repariert werden kon n te. Verstohlen strich ihr Henri dann über den Arm.
Als hätte das Kesseltreiben gegen Descartes auch den Blick auf Elin gelenkt, flammten überraschend die G e rüchte über sie und Henri wieder auf – erst unmerklich, schließlich immer offener. Schmähbriefe machten die Runde, und einige Wissenschaftler, die Elins Dienste bis vor kurzem hoch geschätzt und sie für ihre Wissbegierde gelobt hatten, weigerten sich nun, sie zu unterrichten. Ganz offen ließ Tervué in der Bibliothek unverschämte Bemerkungen fallen, mit denen er darauf a nspielte, dass Elin als Descartes ’ Spionin arbeite. An dem Tag, an dem das erste Mal offen das Wort »Franz o senhure«
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