Der Spiegel der Königin
für ein neues Schulhaus überprüfte. »Ausgerechnet jetzt, wo Chanut für ein paar Wochen in Frankreich ist! Gib Herrn Freinsheim Bescheid und geh mit ihm zum Hafen!«
Elin sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl beinahe u m fiel. Wenig später verließ sie mit ihrem weiten Domin o mantel bekleidet das Schloss und eilte zur Anlegestelle. Ein schneidender Herbstwind heulte um die Häuser am Hafen. Blinzelnd sah sich Elin nach Herrn Freinsheim um, aber natürlich brauchte er einige Zeit, um mit der Kutsche nachzukommen. Währenddessen gingen bereits die ersten Passagiere von Bord. Elin hielt den Mantel mit den Händen zu und spähte zu den gebeugten Gestalten, die im Gänsemarsch das Schiff verließen. Vor Aufregung wurde ihr Mund ganz trocken.
»Monsieur Descartes?«, rief sie auf gut Glück. Fünf Gestalten hoben den Kopf – eine winkte. Descartes war nicht beson d ers groß, dicklich und unscheinbar. Es war nichts Strahlendes an ihm. Nie hätte sie vermutet, einen der größten Philosophen ihrer Zeit vor sich zu haben. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. Er hatte dunkle, au s druck s stark geschwungene Brauen und tiefe Falten um den Mund. Seine Augen waren hellwach.
»Monsieur Freinsheim wird gleich mit der Kutsche hier sein, um Sie zur Botschaft zu bringen«, sagte Elin.
»Nach der langen Fahrt hätte ich auch nichts dagegen, einige Straßen zu Fuß zu gehen«, gab der Philosoph z u rück und schenkte ihr ein liebenswertes, schlaues L ä cheln.
Schon am nächsten Tag ließ Kristina Monsieur De s cartes ins Schloss bitten. Zu Elins Überraschung erschien der unscheinbare Mann herausgeputzt wie ein Edelmann mit spitzengeschmückten Handschuhen, geschlitzten Ärmeln und frisch gewelltem Haar in der Bibliothek.
»Griechisch, Mademoiselle?«, fragte er tadelnd und tippte mit spitzem Finger auf das Buch, das aufgeschl a gen vor Elin lag. »Zeitverschwendung. Lassen Sie die klassische Philologie hinter sich und vertrauen Sie lieber auf Ihren Verstand. Wie Madame Chanut mir in ihren Briefen mitteilte, haben Sie genug davon.«
Verlegen klappte Elin das Buch zu.
»Aber man muss doch die alten Sprachen können.«
»Überflüssig! Gedankenspiele für Kinder. Bestimmt beschäftigen Sie sich auch mit Geschichte, nicht wahr ? «
Sie nickte. Descartes lachte nachsichtig.
»Sie sind jung, Mademoiselle. Aber Sie werden fes t stellen, dass uns die Geschichte keine Antworten liefern kann. Es sind n ur Ansammlungen fremder Gedanken und Behau p tungen. Die wahren Antworten liegen in uns selbst.«
Elin wollte gerade etwas erwidern, als schon Kristina in Begleitung von Herrn Freinsheim auftauchte. Sie strahlte wie ein Mittsommertag, als sie den Philosophen begrüßte.
»Mein lieber Herr Cartesius!«, rief sie. »Ich hoffe, Sie fühlen sich in der Botschaft wohl, auch wenn die Chanuts nicht da sind ?«
»Vielen Dank für Ihre Sorge, Majestät«, erwiderte Descartes. »Der junge Monsieur de Vaincourt tut alles, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu m a chen. Bei den Kenntnissen, die er sich in der Astronomie angeeignet hat, würde er einen guten Kapitän abgeben.«
»Ich bin sicher, Sie werden sich schnell einleben und sich hoffentlich dazu entschließen, recht lange bei uns zu bleiben. Der Winter mag einem Mann aus den wärmeren Ländern grau erscheinen, aber den Sommer hier müssen Sie erleben!«
Elin entging nicht, wie der Philosoph kaum merklich zusammenzuckte.
»Bedauerlicherweise bleibe ich nur ein paar Wochen, Ihre Majestät, um Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.
Kristinas Antwort war ein Lächeln, das Elin nur allzu gut kannte.
Für die Philologen und anderen Gelehrten bei Hofe war die Ankunft des Philosophen wie ein Wind, der die sor g fältig auf einem Tisch angeordneten Papiere durcheina n der wirbelte. Descartes dachte gar nicht daran, se i nen Widerwillen gegen d as Studium der alten Sprachen zu verbergen. Gerne stritt er sich auch mit Tervué und zog dessen mathemat i sches und theologisches Wissen in Zweifel. Und auch mit den protestantischen Geschicht s wissenschaftlern ve r scherzte er es sich, allen voran mit Herrn Gesenbek.
Je dunkler die Wintertage wurden, desto frostiger wurde auch das Klima am Hof. Nur Königin Kristina schien davon nichts zu bemerken. Die Regierungsg e schäfte beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Rat drängte darauf, dass sie endlich den offiziellen Kr ö nungstermin bekannt geben sollte, und Karl Gustav ve r suchte immer noch, sie zur Heirat
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