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Der Spiegel von Feuer und Eis

Der Spiegel von Feuer und Eis

Titel: Der Spiegel von Feuer und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Morrin Alex
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der sich jubilierend Vögel in einen strahlend blauen Himmel hinaufschwangen.
Von einem milden Regenschauer, der den Geruch von feuchter Erde zurückließ, den Duft von Blumen überdeckte, die sich in allen nur erdenklichen Farben zwischen dunkelgrünem Gras wiegten. Von der kalten Decke aus Schnee, die die Welt unter sich begrub und in deren Schutz Tiere und Pflanzen darauf warteten, dass die Sonne wieder zurückkehrte.
    Sie glaubte, die klare, kalte Luft zu atmen, die schweren goldenen Strahlen auf ihrer Haut zu spüren, den Wind warm durch ihr Haar streichen zu fühlen und den Geschmack von Regentropfen ebenso auf der Zunge zu haben wie die Süße von Früchten, deren Saft ihr übers Kinn rann. Doch zugleich schien all das seltsam verdreht, krank und trostlos; ein groteskes Zerrbild von etwas, das eigentlich wunderschön war. Und mit jedem Splitter, der sich an die falsche Stelle fügte, wurde es schlimmer, wurde das Weinen deutlicher. Inzwischen waren die Farben nur noch ein verwaschenes, totes Grau. Das Jubilieren der Vögel war zu einem misstönenden Kreischen geworden und der Wind stank nach Verwesung. Unter ihrer Berührung fühlte die schimmernde Fläche sich falsch an, wie besudelt. Und über dem Weinen des Spiegels war sein Lied kaum noch zu hören.
    Cassim griff nach der nächsten Scherbe. Nur noch ein halbes Dutzend Splitter, dann hatte sie getan, was der Eisprinz wollte. Um sie her war es so kalt, dass alles mit Reif überzogen war. Jeder Atemzug brannte in ihrer Brust. Ihre Tränen gefroren auf ihren Wangen und fielen als schillernde Perlen auf die seltsam trübe Oberfläche des Spiegels, nur um dort zu schmelzen und sich mit den Schlieren aus Blut zu vermischen, die auf ihm glänzten. Sie war müde, unendlich müde. Es war, als würde mit jeder Träne, jedem Tropfen Blut etwas von ihrem Leben in den Spiegel fließen. Matt fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn, strich sich eine rote Strähne aus den Augen. Wenn sie nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte sie über diesen unsinnigen Gedanken gelacht. Bestimmt stahl ihr die allmählich immer grimmiger werdende Kälte den letzten Rest ihrer Kraft – sie zitterte
am ganzen Körper. Ihre Glieder waren mittlerweile so taub, dass sie sie nicht mehr spürte. Schwach blies sie gegen ihre klammen Finger, doch auch die Wärme ihres Atems konnte die Starre nicht mehr aus ihnen vertreiben. Das Blut aus unzähligen kleinen und großen Schnitten war auf der bläulich gefärbten Haut ihrer Hände zu einer eisigen Kruste erstarrt.
    Erschreckt kauerte sie sich zusammen, als der Eisprinz plötzlich neben ihr stand. Die meiste Zeit hatte er in dem Türbogen zu dem ovalen Saal gesessen, den Rücken gegen die eine Seite des Rahmens gelehnt und den Fuß gegen die andere gestemmt, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Nur ein paar Mal hatte er sie allein gelassen. Meist hatte sie es erst bei seiner Rückkehr bemerkt. Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war sein eisiges »Du hast dich also für das Betteln entschieden« gewesen. Dann hatte er sie dem Schmerz und den Spiegelsplittern überlassen und sich in den Türbogen zurückgezogen, wo er in jenes kalte Schweigen verfallen war. Sie war nicht mutig genug gewesen, ihn zu fragen, ob er das Lied und die Tränen des Spiegels auch hören konnte.
    Er kniete sich neben sie. Ohne zu merken, dass sie sich damit selbst tiefe Schnitte zufügte, umklammerten ihre Finger die Scherbe fester, die sie gerade aufgehoben hatte. Wortlos griff er nach dem Splitter, entwand ihn ihr, nahm ihre zitternden Hände in seine und ließ glitzernden Schnee auf die Wunden rieseln. Betäubt vor Verzweiflung und Kälte, beobachtete Cassim reglos, wie er die unzähligen kleinen und großen Verletzungen mit dem Weiß wusch. Irgendwo in einem Winkel ihres müden Verstandes fragte sie sich, wo er den weichen, reinen Schnee herhaben mochte, während sie ihn einfach gewähren ließ und ihm nur weiter stumm zuschaute. Zuerst spürte sie überhaupt nichts, doch dann wurde die schmerzhafte Gefühllosigkeit in ihren Fingern von einem leisen Brennen vertrieben. Zögernd wagte sie es, ihn anzusehen. Ehe ihre Blicke sich kreuzen konnten, senkte er seinen.

    »Wenn ich … Ich brauche das Auge des Feuers, wenn ich den Spiegel ganz zusammensetzen soll.« Cassim konnte selbst nicht verstehen, warum sie mit ihm redete, es auch nur versuchte. Ohne Antwort machte er weiter. Das Brennen wurde zu sanfter Wärme. Die Schnitte an ihren Händen schlossen sich,

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