Der Spiegel von Feuer und Eis
verblassten allmählich. »Ich … Ich bin fast fertig.«
Seine Bewegungen gefroren. Langsam wandte er den Blick, starrte auf die trüb schimmernde Spiegelfläche. »Das Auge des Feuers ist der Schlüssel zu ihm, aber es ist kein Teil des Spiegels. Du brauchst es nicht.« Er sprach so leise, dass Cassim ihn kaum verstand. Unverwandt blickte er auf den Spiegel – bis er mit einem Mal den Kopf sinken ließ, als sei er plötzlich unendlich müde. Doch keinen Herzschlag später sah er auf. Seine Hand glitt unter sein Hemd. Als er sie wieder hervorzog, waren seine Kiefer so fest zusammengepresst, dass ein Muskel an seiner Wange zuckte. Etwas berührte flammend kalt ihre Handfläche. Er legte ihre Finger darum, und Cassim stöhnte auf, weil sein Griff sich einen Moment lang grausam hart um ihre Hände schloss. Seine aquamarinhellen Augen zuckten zu ihr, wandten sich wieder ab. Unvermittelt gab er sie frei und stand brüsk auf. Er tat einen langen, seltsam zitternden Atemzug. Ein eisiger Windstoß fegte durch den Raum, zerrte an dem Spiegel. Knirschend fraß ein Riss sich durch seine Oberfläche, die im nächsten Herzschlag wieder zu unzähligen Splittern zerbarst. Mit einem Schrei schlug Cassim die Hände vors Gesicht und duckte sich.
Neben ihr trat der Eisprinz einen Schritt zurück. »Setz ihn wieder zusammen, Flammenkatze«, hörte sie seinen gepressten Befehl, ehe er sich abrupt umdrehte, mit schnellen Schritten dem Türbogen zustrebte, die drei Stufen in den großen Saal mit einem geschmeidigen Satz übersprang und in seinen Tiefen verschwand.
Langsam richtete Cassim sich wieder auf, blickte starr auf das tausendfach gebrochene Glitzern. Die Splitter des Spiegels von
Feuer und Eis waren erneut im ganzen Raum verteilt. In ihrer Hand brannte das Auge des Feuers voller Kälte. Ohne es loszulassen, beugte sie sich langsam vor und nahm das erste Bruchstück, ehe die Qual in ihrem Kopf wieder erwachen konnte. Mit leerem Blick setzte sie es an seinen Platz im Rahmen. Die scharfe Kante schnitt in ihre Finger. Sie spürte es kaum, als sie nach dem nächsten griff – ebenso wenig wie die verzweifelten Tränen, die erneut über ihre Wangen rannen.
Wachsam bewegten sie sich die lang gezogenen Stufen hinauf. Nur das leise Klacken ihrer Hufe war außer ihren angespannten Atemzügen und dem gelegentlichen Knarren ihrer ledernen Harnische neben dem Klirren ihrer Waffen zu hören. Die vollkommene Stille, die im Inneren des Avaën herrschte, machte sie unruhig. Haranas fasste den Griff seiner Doppelaxt fester und blickte kurz zu den acht Kriegern, die ihm dichtauf folgten. Nagraitos, sein erster Hauptmann, ließ die Augen mit witternd geblähten Nüstern misstrauisch umherwandern. In dem sanften Licht der rötlich gelben und blauen Flammen in den Wänden schimmerten die silbernen Ringe um seine Hörner. Als sie den Eingang ins Innere des Berges erreicht hatten, war gerade die letzte Stunde vor Morgengrauen angebrochen. Wahrscheinlich ging draußen inzwischen die Sonne auf und überzog das eisige Weiß des Schnees mit ihrem warmen Licht.
Haranas spähte in einen der von den Stufen abzweigenden Gänge. Auch wenn das Menschenmädchen mit seinem kalten Bewacher unter dem Gipfel des Avaën war, dort, wo sich nach Aussage seines Herrn auch der zerschlagene Spiegel befand, eigneten sich all die dunklen Gänge doch hervorragend, um ihnen eine Falle zu stellen. Vor allem, da sie nicht mit Sicherheit wussten, ob der Eisprinz tatsächlich allein war.
Nur wenige Schritte später blieb er abrupt stehen. Direkt in einer Biegung saß die schwarzhaarige Bestie auf einer der glitzernden Stufen, die Schulter lässig gegen eine Sintersäule gelehnt, und blickte ihnen beinah ein bisschen überrascht entgegen.
Neben Haranas trat Nagraitos mit halb erhobenen Speerklingen vor. Unter seinem dichten rotbraunen Fell spielten seine mächtigen Schultermuskeln. Nur Haranas’ scharfer Blick hinderte ihn daran, sich auf den Eisprinzen zu stürzen, der sich langsam erhob. Beinah verächtlich musterte der General den Mann auf den Stufen über ihnen. Mehr schlank als muskulös, eher ein Jüngling denn ein Krieger – aber wenn er nur halb seines Vaters Sohn war, war er mehr als tödlich.
»Verschwindet! – Solange ihr es noch könnt.«
Haranas fasste den Griff seiner Doppelaxt fester. Die Worte waren nicht mehr als ein beinah gelangweilt sanftes Schnurren gewesen, und doch war es genau das, was ihn warnte. Zusammen mit dem Reif, der Handbreit für
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