Der Spiegel von Feuer und Eis
trat eine hochgewachsene Frau. Ihr Gewand war Seide und Sturm. Eine Schleppe aus Frost strich hinter ihr über den Boden. Mit einem entsetzten Raunen wichen die Diener der Hexe zurück. »Wie es sein kann, dass ich nicht mehr in jenem Schlaf gefangen bin, der weder Tod noch Leben war? Zu dem
du mich verdammt hast?« Eine Böe fuhr durch ihr langes Haar, das zugleich Schnee war, und ließ es aufwehen. Langsam trat sie näher, musterte die Hexe aus hellen blauen Augen, Gletscherseen aus unvergänglichem Eis. »Du hast den Zauber selbst gebrochen, Lyarian.«
»Ich … das kann nicht sein.«
»Doch, Schwester. Du warst es.« In einem Flüstern aus Kälte kniete sie neben Cassim nieder und streckte eine bleiche, mondsteinschimmernde Hand nach dem reglosen Körper im Schnee aus. »Damals hast du die Macht meines Sohnes gegen mich eingesetzt, da deine zu schwach war, um mich zu bannen. In all der Zeit war es immer seine Macht, von der du gezehrt hast.« Sie zögerte, schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand ein dunkler Schmerz in ihnen. »Und heute hat er all das gegeben, was du ihm gelassen hast, um sich gegen dich zu stellen.« Sanft strichen ihre Finger durch das schwarze Haar. »Du hast mir meinen Sohn gestohlen!« Selbst Zorn und Trauer waren nicht in der Lage, ihren Zügen die anmutige, sanfte Schönheit zu nehmen, die bei ihrer Zwillingsschwester Kälte und Grausamkeit war.
»Lyjadis, bitte …«
»Was? Erbarmen? – Nein, Schwester! Was du nicht gewährt hast, wird auch dir nicht zuteil.« Sie schüttelte den Kopf. »Allerdings wirst du dich gedulden müssen. Im Augenblick ist mir mein Sohn wichtiger, als das Urteil über dich zu sprechen.« Ihre Geste war kaum zu erahnen. Für einen Atemzug hing das Kreischen der falschen Eiskönigin in der Luft, dann war es zu einem Blöken verstummt. Dort, wo die Hexe eben noch gestanden hatte, blickte jetzt eine Hirschkuh mit erschrockenen Augen um sich. »Nur so lange, bis ich Zeit finde, mich mit dir zu befassen, Schwester.« Schnee flüsterte um sie herum. Die Eisdryaden, Faune und Centauren wichen zurück, warfen sich auf die Knie und beteuerten stammelnd, nichts von den bösen Taten ihrer falschen Herrin gewusst zu haben. Ein Wink bedeutete
ihnen zu schweigen. Dann sah die Eiskönigin – die wahre Eiskönigin – Gaeth an.
»Geh zum Lord des Feuers und berichte ihm, was geschehen ist. Er soll sofort zum Avaën kommen.«
Schweigend nickte Gaeth. Gleich darauf erhob ein Firnwolf sich aus dem Schnee und rannte davon.
Als Cassim die Augen der Eiskönigin kalt auf sich spürte, brachen die Worte in sinnlosem Stammeln aus ihr hervor: »Er wusste es nicht. Ich wollte es ihm sagen. Er wusste es nicht.« Plötzlich brannten ihre Augen. »Er hat … Sein ganzes Leben hat er eine Lüge geglaubt.«
Schweigend und hart sah die Eiskönigin sie weiter an. Eine unerklärliche Angst erwachte in Cassim. Beinah war sie erleichtert, als Königin Lyjadis dann abrupt den Blick von ihr löste.
»Bringt meinen Sohn zum Avaën!« Der Ton in ihrer Stimme war Eis und Bitterkeit.
Hoffnung! Gab es ein grausameres Wort? – Wohl kaum.
Wie in einem bösen Traum bewegte Cassim sich Schritt für Schritt die Stufen aus Eis hinab. Sie hatten ihn in die gleiche Gruft gebracht, in der zuvor die wahre Eiskönigin gelegen hatte. Es war der Raum tief unter dem Avaën, vor dessen versiegelter Tür sie erst vor zwei Tagen und zugleich Ewigkeiten gestanden hatte. Vor dem glitzernden Türbogen weigerten ihre Füße sich, sie weiterzutragen. Stumm starrte sie in die schimmernde Dunkelheit dahinter. Selbst die vereinte Macht der Eiskönigin und des Lords des Feuers hatte nicht ausgereicht, um das Leben festzuhalten, das noch in ihm war. »Nimm Abschied«, hatte der Lord des Feuers ihr gesagt. Ein mächtiger Körper drückte sich gegen ihre Beine. In der Stille erklang ein leises Winseln. Ihre Finger streiften das dichte Fell. Zögernd wanderte ihr Blick
zu dem Mann, der neben einem der Feuerbecken aus geronnenem Frost stand. Sie kannte seinen Namen. Gaethanen gein Cathal. Er war ein Prinz der Aedochan, den die falsche Eiskönigin zu einem Dasein als Firnwolf verflucht hatte, weil er im Rat die Stimme gegen sie erhoben hatte. Und er war nach Morgwen der Anführer des Wolfsrudels. Die seltsam fahlen Flammen beleuchteten die Narbe, die sich quer über seinen Nasenrücken zog, und offenbarten erbarmungslos den Schmerz in seinen Zügen. Ein paar von ihnen waren immer hier
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